Entwicklungsprozess der Figur Anna (Christa Junker)

Francois Ozon erzählt den Film aus der Perspektive der trauernden Anna, der jungen Verlobten des an der französischen Front gefallenen Frantz.

Der Wirkungskreis von Anna ist sehr eng. Er spielt sich ab zwischen dem Wohnhaus der Schwiegereltern, Magda und Hans Hoffmeister, um die sie sich kümmert und wo sie auch lebt, und den Gängen zum Friedhof, um das zum Gedenken an Frantz angelegte Grab zu pflegen.

Anna ist eine hübsche Frau, von zierlicher Gestalt. Mit zügigem, aufrechtem Gang bewegt sie sich durch die schmalen Gassen von Quedlinburg. Die steile Treppe zum Friedhof hinauf scheint ihr schwerer zu fallen, man bemerkt ihre Trauer. Gleich zu Anfang bleibt auf diesem Weg ihr Blick an einem schönen Kleid im Schaufenster einen Moment haften, resigniert geht sie weiter, doch den Keim der Veränderung scheint sie schon in sich zu tragen. 1:35 Die Kamera, vom Ladeninnenraum auf Annas Gesicht vor dem Schaufenster gerichtet, lässt ahnen, dass sie irgendwann in diesem Laden stehen wird, das Trauerkleid ablegen will.

Im Gespräch mit dem Friedhofsgärtner zeigt dieser deutlich seine Verachtung gegenüber dem fremden Franzosen, der an Frantz Grab Blumen niedergelegt hat. Anna dagegen scheint darüber entsetzt und distanziert sich von dessen hasserfüllter Geste. Fragend, nahezu missachtend schaut sie ihn eindringlich an.3:16

Etwas abwartend und dem Wunsch der Schwiegereltern folgend, begegnet Anna dem kleinbürgerlich denkenden Kreutz, der um ihre Hand anhalten will. Wir erfahren, dass sie ihr Studium abgebrochen hat, seit dem Verlust von Frantz ist ihr die Lust daran vergangen. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, die in dieser Zeit bereits studieren durften. Sie bleibt sich treu, sie willigt nicht ein: „…ich will ihn (Frantz)aber nicht vergessen!“ Auch bei weiteren Begegnungen mit Kreutz im Verlauf des Films vertritt sie klar ihren Standpunkt, von Frau zu Mann auf Augenhöhe. Anna weiß ganz klar, was sie nicht will. Der Besuch von Adrien, dem fremden Franzosen, am Grab von Frantz und bei den Hoffmeisters bringt Bewegung in die von Trauer erstarrte Situation. Adrien erfüllt die Wünsche und Erwartungen der Familie, besonders von Magda und Anna, ein Freund von Frantz gewesen zu sein, der vor dem Krieg in Frankreich studierte. Die gemeinsamen Erinnerungen bringen wieder Farbe ins Leben. Adrien spricht sehr gut Deutsch, so wie Anna auch Französisch spricht. Französisch war immer die Geheimsprache zwischen den Verlobten, wenn die Eltern etwas nicht verstehen sollten. So wird es im Verlaufe des Films auch mit Adrien sein.

Anna öffnet sich Adrien gegenüber, es entwickelt sich Vertrauen, die Welt ist weniger grau und wird bunter. Beim Spaziergang mit Adrien tun sich neue Ausblicke auf. Dennoch bleibt es für alle noch ein Geheimnis, was Adrien und Frantz wirklich verband. Adrien: „Frantz ist meine einzige Wunde“ 25:40

Adrien nimmt immer mehr die von dem Ehepaar Hoffmeister gewünschte Rolle des Ersatzsohnes an. Er hat viele Gemeinsamkeiten mit Frantz, er ist gebildet, spielt Geige, ist empfindsam, schüchtern und schwermütig. Die Tränen von Adrien und sein Zusammenbruch beim Geigenspiel sind für Anna und die Eltern Indiz für seine tiefe Freundschaft zu Frantz. Ein erregendes1) Moment für die weitere Handlung ist der Brief von Frantz, den Anna vorliest. Aus ihm geht hervor, dass Frantz Pazifist war.30:00 Die Besuche von Adrien sind eine Wohltat für die Hoffmeisters „und für mich auch“, betont Anna.33:45

Adrien lädt Anna zum Tanzabend ein, sie trägt das schöne Kleid aus dem Schaufenster, ein französisches Modell, Zeichen ihrer Aufgeschlossenheit. Lebensfreude kommt auf. Auf dem Festplatz angekommen, fühlt sich Adrien unerwünscht. Anna: „Keine Sorge. Ich bin da!“ 35:42. Sie übernimmt die Rolle der Beschützerin. Selbstbewusst fordert sie Adrien zum Tanz auf. Schlagfertig reagiert sie auf die provokante Äußerung von Kreutz, sie solle sich schämen, mit einem Franzosen auf ein deutsches Fest zu gehen. Auf dem Heimweg legt Adrien sein Jackett um ihre Schultern, ein Zeichen der Vertrautheit. Beim Abschied vor der Haustür steht Anna eine Stufe über Adrien und hilft ihm ins Jackett. Er schaut zu ihr auf. Sie scheint die „Größere“ von beiden zu sein.

Als Adrien nicht der Einladung zum Abendessen der Hoffmeisters folgt, findet Anna ihn am Grab von Frantz. Jetzt bricht die Wahrheit aus ihm heraus, er hat Frantz erschossen. Anna will es zunächst nicht wahrhaben. 48:37: „Nein, nicht Sie!“ Das Entsetzen steht ihr im Gesicht, Enttäuschung ergreift sie. Beide geben ihrem großen Schmerz mit Tränen Ausdruck. Die Dunkelheit der Nacht wird dieses Geheimnis nicht preisgeben und der Ort steht für ewigen Frieden. Anna erfährt vermutlich mit dieser Offenbarung einen noch größeren Schmerz als den, den der Verlust von Frantz bei ihr ausgelöst hat, aber sie bleibt selbst in dieser Situation handlungsfähig und trifft für sich schnelle Entscheidungen: Sie übernimmt die persönliche Verantwortung und verschweigt den Schwiegereltern den wahren Grund von Adriens plötzlicher Abreise, um sie zu schonen.

In Folge belügt sie Adrien, verhindert sein persönliches Geständnis bei den Hoffmeisters vor seiner Abreise und sagt ihm, die Eltern seien informiert, und Adrien schlussfolgert, dass sie ihn nie mehr sehen wollen. Adrien trägt jetzt eine noch größere Schuld, ihn belastet die Vergeblichkeit seines Handelns. Auf dem Bahnsteig besteht Adrien darauf: „Ich muss Ihnen schreiben“ 54:05. „Dann aber direkt an mich“ so Anna, sie wolle die Briefe dann vorlesen. So behält Anna die Fäden der weiteren Entwicklung in der Hand.

Sie weigert sich, Adrien zum Abschied die Hand zu reichen, verschränkt beide Arme hinter ihrem Rücken, sie lässt keine weitere Berührung zu. Einen zu großen Schmerz hat Adrien ihr zugefügt, sie kann nicht vergeben.

Anna widmet sich wieder intensiv der Pflege von Frantz‘ Grab, mit neuen Pflanzen und sogar einem Bild von ihm. Bei der Arbeit trägt sie helle Kleidung, doch dann ziehen Wolken auf. Im dunklen Mantel und Hut schaut sie aufs Grab, und der Regen und die Dunkelheit unterstreichen ihre traurige und deprimierte Stimmung.

Anna liest erneut den letzten Brief von Frantz, den auch Adrien exakt zitieren konnte. Sie ist so aufgewühlt, dass ihre Gefühle Frantz und Adrien gegenüber sich vermischen. Erst hört sie die Stimme von Frantz, dann wird diese überschnitten von der Adriens, bis sie schließlich nur noch Adriens Stimme hört. 57:33 Nicht nur Frantz hat sie verloren, sondern mit der Offenbarung des Geheimnisses nun auch Adrien, zu dem sie sich inzwischen hingezogen fühlte.

Anna geht zum See, in dem Adrien während ihres Spaziergangs geschwommen ist. Der Weg dorthin ist in dunklen Farben gehalten, im Gegensatz zu dem Spazierweg mit Adrien, der mit seinen sanften Farben so viel Leichtigkeit und Aufbruchstimmung vermittelte. Die Kameraführung ist vergleichbar. Eine Familie am Ufer singt mit ihren Kindern ein Kinderlied. Anna geht ganz ruhig und gezielt – Unheil verkündende Klaviertöne werden angespielt-immer weiter ins Wasser; sie will sich das Leben nehmen, doch sie wird gerettet. 59:30

Hans und Magda Hoffmeister erfahren nichts von Annas Selbstmordversuch, sie hat Fieber und ist sehr krank. Magda umsorgt sie liebevoll. Als der bestellte Gedichtband von Paul Verlaine eintrifft, hellt sich ihre Stimmung auf. Nach einem Fiebertraum, in dem sie den verwundeten Frantz sieht, betritt der Schwiegervater das Krankenzimmer und öffnet das Fenster. Er wendet sich ihr zu und sagt ihr auf Augenhöhe: „Du hast dich um uns gekümmert, jetzt sind wir dran…Du musst aufstehen, du musst rausgehen und leben.“ 1:02:45 Ein schwaches Lächeln überzieht ihr Gesicht. Anna ist jetzt bereit, sich wieder um sich selbst zu kümmern. Sie sucht ihren Beichtvater auf, zu sehr quälen sie ihre Lügen, ihre ungeklärten Gefühle gegenüber Adrien. „Ich weiß nicht. Er hat den Mann getötet, den ich liebte“ (1:06:48), sagt sie zum Pfarrer. Sie fühlt sich in ihren Gefühlen gefangen. Der Pfarrer rät ihr, Adrien zu vergeben und erteilt ihr die Absolution. Anna überlegt nun, Kreutz zu heiraten, doch diesen Gedanken lässt Magda nicht zu, hat sie doch inzwischen den sympathischen Adrien kennen gelernt. Motiviert durch das Gespräch mit Magda schreibt Anna einen Brief zur Versöhnung an Adrien. Der Brief hat ihn nicht erreicht und kommt ungeöffnet zurück, und die Hoffmeisters ermutigen sie, nach Frankreich zu reisen und Adrien zu suchen. Nicht ohne eigenes Interesse legen sie ihr nahe „und bring ihn uns zurück!“ 1:10:24

Sehr feinfühlige, aufgeschlossene Schwiegereltern ermöglichen Anna diesen Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt, nicht selbstverständlich in der damaligen Zeit für eine Frau. Auf dieser Reise wird Anna endgültig erwachsen. Sie verlässt ihr wohlbehütetes Zuhause. Sie muss sich mit dem Ausmaß des beendeten Krieges auseinandersetzen, ihr Gesicht im Spiegel der Waggonfenster wird eins mit den Trümmern und Verwüstungen an der Wegstrecke. Sie erfährt die ähnlichen Verhaltensweisen im Umgang mit den Folgen des Krieges auf beiden Seiten, und sie wird mit einem anderen Eindruck von Frantz Leben in Frankreich konfrontiert. Nach mühevoller Recherche, die sie zunächst zweifeln lässt, ob Adrien noch lebt, findet sie ihn auf dem Landsitz seiner Familie. Adrien ist erfreut über das unvorhergesehene Wiedersehen (1.27:10) und besonders darüber, dass, wie Anna berichtet, Hoffmeisters und sie selbst ihm verziehen haben. Diese Lüge im Bezug auf Frantz‘ Eltern dient der großen Versöhnung mit Adrien. Auch Adrien hatte wie Anna tiefe Depressionen, wollte sich nach seiner Abreise aus Quedlinburg das Leben nehmen. Anna wollte nicht mehr leben, weil sie nichts mehr empfinden wollte, nicht mehr unglücklich sein wollte, doch das wäre in Adriens Augen egoistisch gewesen. Adrien sagt: „Man muss auch für andere leben.“ Jetzt fühlt sie sich gut, Adrien nahe zu sein. Das Leben geht weiter. Aus Spaß antwortet sie auf seine Frage, ob sie jetzt schwimmen könne mit Nein, sie hätte doch auf Adrien gewartet, dass er ihr das Schwimmen beibringt. 1.29:27 Anna geht mit Adrien erwartungsvoll auf das Landhaus zu - ein schönes junges Paar in harmonischer Stimmung. Dort lernt Anna Fanny, seine Verlobte kennen. Äußerst irritiert, aber gefasst begegnet sie ihr und abends den Gästen des Hauses. Von Fanny erfährt sie, dass sie Adrien in seinem Wunsch zu einer Reise nach Quedlinburg bestärkt hat, denn andere hatten ihn für verrückt erklärt. Er habe den Platz von Frantz einnehmen wollen. Fanny möchte gern eine Bestätigung von Anna, dass niemals der Platz eines geliebten Menschen von einem anderen eingenommen werden könne, doch Anna hält sie im Ungewissen. „Ich weiß nicht.“1:33:09 Jetzt ist Anna es, die beim Hauskonzert mit Adrien und seiner Verlobten abrupt ihre Klavierbegleitung abbricht. 1:35, „Pardon. Ich kann nicht!“ Nicht an Frantz, wie Adrien vermutete, sondern an Adrien denkt sie, als sie aufspringt. Adrien versteht sie nicht. Sie muss sich entscheiden. Wiederholt wurde sie tief enttäuscht und dennoch bewahrt sie ihre Haltung. Eine Abreise ist für sie jetzt die einzige Möglichkeit. Adrien hat sich seiner Familie verpflichtet, und er wird Fanny, die ihn immer geliebt hat, auch auf Wunsch seiner Mutter heiraten. Dies zeigt ihr die Ausweglosigkeit einer Beziehung zu Adrien. Die Abschiedsszene auf dem Bahnsteig lässt erkennen, dass Adrien Anna liebt doch sie erwidert beim Einstieg in den Zug: „zu spät“. 1:41:59 Frantz wünschte ihr einst, ihre Lebensfreude zu bewahren und Adrien wünscht ihr jetzt bei ihrer Abreise, glücklich zu werden.

Im Louvre geht Anna gezielt auf das „Selbstmörder“ - Bild von Manet zu. Die Kamera zeigt, zunächst aus der Froschperspektive, ihre Füße und einen Teil der Unterschenkel, danach die ganze Person von hinten. Hier ist etwas in „Gang“ gesetzt worden, und einen Lebensabschnitt kann Anna hinter sich lassen, nämlich ihre Depression, ihren Selbstmordversuch, ihre Enttäuschungen. Sie nimmt neben einem jungen Mann Platz, der Zuschauer hofft insgeheim, es sei Adrien, er ist es aber nicht. Sie hat eine neue Frisur, ist modern gekleidet und sagt, während das Kinobild wieder farbig wird, über das Bild des Selbstmörders: 1:44:49 „ Es gibt mir Lust aufs Leben!“ So im Widerspruch zum Bild kann Anna nur aus einer großen Distanz heraus sprechen, die sie inzwischen zu ihren Lebensereignissen gewonnen hat. Hier zeigt sich die alte Lebenslust, die Frantz so sehr an ihr schätzte und die sie sich - so sein Wunsch aus dem Schützengraben - bewahren sollte. Ihre Zukunft hat jetzt für sie begonnen. Ihre Schwiegereltern lässt sie weiterhin im Glauben, mit Adrien zusammen zu sein. Eine Rückkehr hält sie zunächst offen.

1)
Benjamin Beil, Jürgen Kühnel, Christian Neuhaus: Studienhandbuch Filmanalyse, 2. Aktualisierte Auflage 2016, Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG in Kapitel 8 „ Das Fünf-Phasen-Schema der dramatischen Handlung“, S.216: „- den Übergang von der Exposition – der Ausgangssituation, aus der heraus der die Handlung vorwärtstreibende Konflikt sich entfaltet (das, was Aristoteles Anfang nennt) – zur steigenden Handlung markiert das erregende Moment;“