FRANCOIS OZON UND SEIN FILM ‚FRANTZ‘ (Bernd Heinen)

Deutschland 1919, Quedlinburg, Totale auf eine Kirche, dann schwarz-weiße Bilder auf einen Markt, eine Blaskapelle spielt die „Wacht am Rhein“, eine hübsche junge Frau auf Stöckelschuhen kauft Blumen, geht an einem Bekleidungsgeschäft vorbei. Im Schaufenster hängt ein Kleid. Sie geht weiter in Richtung Friedhof.

Francois Ozon breitet in seinem zwanzigsten Spielfilm bereits in der Eingangsszene ein Vexierpanorama von Andeutungen aus, die Erwartungen erzeugen und die im Verlaufe des Films wiederkehren werden. Wir werden Quedlinburg nur nach Paris hin verlassen, selten wird aus Schwarz-Weiß das gewohnte Farbige werden, Friedhof und Tod sind die Signatur dieses Films und trotzdem gelingt es Anna, so heißt die junge Frau, den Zustand von Enttäuschung, Sinnentleerung und Trauer zu überwinden. Sie entwickelt ganz langsam die Fähigkeit, sich aus den nationalen und bürgerlichen Identitätsstrukturen zu befreien und in Frankreich ein neues Leben anzufangen.

Ozon spielt auf diesem langen Weg wie immer in seinen Filmen mit den Vorstellungen der Zuschauer. Er zeigt komplexe Vexierbilder, mit Umdeutungen und Doppelcodierungen werden die Betrachter in ein ästhetisch und politisch ausgefeiltes Mosaik der Nachkriegszeit des 1. Weltkriegs hineingezogen. Es geht vor allem um die Neuerfindung der eigenen Person nach dem Tod geliebter Menschen – ein häufiges Thema bei diesem Regisseur (vgl. ‚Unter dem Sand‘, ‚Eine neue Freundin‘). Zwar dreht Ozon nahezu jedes Jahr einen Film und es gleicht wirklich keiner dem nächsten, er bedient alle möglichen Genres (vom Psychothriller über Sexualdramen hin zu Krimikomödien und bei ‚Frantz‘ zum Melodrama), doch vermag er jedem Film eine eigene Spannung und Spezifität zu verleihen. Mit großer Sicherheit wechselt er von einem Genre zum nächsten und findet trotzdem immer seinen eigenen Stil, den der Filmtheoretiker Timo Storck als „zwischen Grauen und Färben“ bezeichnete. Im Kern aller seiner Werke liegt ein breites cinephiles Raster, klassisches Kino, bei ‚Frantz‘ sind es Truffaut, Renoir, Hitchcock, Fassbinder, Ford, Bunuel.

Die „Wirklichkeit“ steht bei Ozon immer auf der Kippe, sie wird in seinen Filmen und durch unsere Augen neu verhandelt, mit Bildern und Vorstellungen, die sich entwickeln und sich emanzipieren. Was war zwischen Adrien und Frantz im Vorkriegs-Paris? Ist Frantz wirklich tot? „Manchmal denke ich, dass Frantz nicht tot ist“ sagt Anna zu Adrien auf dem Quedlinburger Friedhof (21:30). Werden diese beiden ein Paar? Wir wünschen es und Ozon spielt sehr mit dieser Sehnsucht nach einer Lösung, aber einen (durchaus intensiven) Kuss zwischen den beiden wird es erst geben, wenn es keine Chance mehr für eine Liebe zwischen ihnen gibt (1:42). Oder sitzt vor dem „Selbstmörder“-Bild von Manet in der Schlußszene (1:44) nicht doch Adrien, der übrigens bis ins Detail der Figur des Jim in Francois Truffauts‘ „Jules und Jim“ (1962) gleicht, der auch eine deutsch-französische Menage à trois in Zeiten des 1. Weltkriegs zeigt? In diesem Film werden allerdings Jules und Jim und Catherine (Jeanne Moreau) Liebespaare, die Höhen und vor allem die Tiefen dekliniert Truffaut ganz durch. Bei Ozon gibt es „Liebe ohne Liebe“, der Zuschauer phantasiert, wünscht sie. In der „Wirklichkeit“ findet sie aber nicht statt. Kino besteht bei Ozon aus Lügen und wir Zuschauer glauben gerne daran, wenn wir sie sehen.

Es geht hier in ‚Frantz‘ vor allem darum, eine Person aus den Fesseln von Dunkelheit, Provinzialität, Selbstmord, Trauma und Trauer zu befreien. Der Filmraum ist ein Konstrukt aus Licht und Kostümen, aus sorgsam kadrierten Einstellungen, langsamen Kamerafahrten und –zooms auf die Personen, Kunst, klassischer Musik und einer Geräuschkulisse aus Wind und Regen, auf Pflaster hallendem Schuhwerk, alten Autos und Dampflokomotiven. Daraus entwickelt Ozon ein zeitgeschichtlich fixiertes Spiel von Licht und Schatten und den Lernprozessen einer Frau: Anna.

Ozon unterteilt seinen Film in elf Kapitel, keines ist nach der wichtigsten Person benannt: Friedhof; Adrien; Ausflug; Geigenspiel; Tanzabend; Stammtisch; Wahrheit; Einsam; In Paris; Auf der Suche; Kammerkonzert. In diesen Erzählabschnitten entsteht ein Sittenbild nach der Katastrophe des ersten Weltkriegs, nicht wie in Hanekes ‚Das weiße Band‘ vor dem Krieg. Ozon zeichnet ein Bild von Männern, deren nationalistisches Denken voller Todessehnsucht steckt. Ein Jahrhundert der Selbstzerstörung hat begonnen. Tote auf Urlaub sind sie alle. Manets‘ Bild vom Selbstmörder (von 1881) ist Symbol dieses Denkens und deshalb ein Zentrum des Films. Zwischen diesen Männern besteht für Frauen nur ein schmaler Grat für Entwicklung und Emanzipation.

Adrien sucht Vergebung in Quedlinburg. Adrien ist der französische Frantz. Anna lernt Adrien am Grab ihres Verlobten kennen. Sie lädt ihn zu den Hoffmeisters ein, obwohl er beim ersten Besuch von Hans, dem Vater von Frantz, als „Mörder“ seines Sohnes aus dem Haus geworfen wurde. Nach 17:23 wird der Film zum ersten Male farbig. Adrien erzählt vom Besuch im Louvre, wir sehen Frantz und ihn mit Bekanntschaften tanzen, er erzählt von dem Bild eines jungen blassen Mannes mit dem Kopf nach hinten liegend. „Heute Abend war es, als wäre Frantz nach Hause zurückgekommen“, sagt Magda, die Mutter. „Was war zwischen Ihnen? Eine Frau?“, fragt Anna, deren Gesicht zunehmend aufmerksame, lächelnde Züge annimmt. „Nur Freundschaft“, sagt Adrien. Sie zitiert ein Gedicht von Paul Verlaine auf Französisch, ihrer Geheimsprache mit Frantz (21:30). Gedichte sind in diesem Film mehr als Atmosphäre, sie definieren, gliedern und kommentieren die rhythmische Poesie der einzelnen Szenen. Wir hören das Rauschen des Windes in den Blättern, es regnet leicht. Sie gehen zusammen der Sonne entgegen (23:15), das Bild wird beim Schreiten durch einen Bergdurchgang farbig, zwei Menschen kommen sich näher. Sie merkt, wie ähnlich Adrien ihrem toten Freund ist. Hier oben hatte Frantz um ihre Hand angehalten. Adrien ist genauso schüchtern und schwermütig wie Frantz. Adrien sieht mit Caspar David Friedrich in die Ferne der Landschaft, aber auch mit den Augen eines Western-Darstellers in die Weite der Prärie.

Der alte Hoffmeister will Adrien die Geige seines Sohnes schenken. „Sie ist wie das Herz meines Sohnes“ (29:30). Adrien lehnt ab, dann sehen wir in Farbe Frantz spielen, Adrien korrigiert ihn aus dem Hintergrund. Die Blicke von Anna auf Adrien werden zunehmend intensiver. Er spielt dann doch Geige bei den Hoffmeisters, sie Klavier – dann wird er ohnmächtig. Anna bekommt zur Tanzveranstaltung das französische Kleid („direkt aus Paris“). Schon in der Boutique setzt die Tanzmusik ein (das Überlappen von Geräuschen, Dialogen, Musik bevor die entsprechende Szene überhaupt erst beginnt, ist wieder ein bevorzugtes Stilmittel dieses Regisseurs, voice over). Beim Tanzen kommen sich beide näher, fast geschieht ein Kuss, Adrien tanzt fröhlich mit anderen deutschen Frauen. Anna lehnt auch hier zum wiederholten Male die Avancen von Kreutz ab. Aber die inneren Qualen von Adrien werden größer und schließlich erzählt er Anna die Wahrheit (46:50, natürlich wieder auf dem Friedhof). „Ich habe Frantz getötet, am 15. September 1918“. Wir sehen einen Soldatentrupp, der angegriffen wird, dann steht Adrien im Schützengraben Frantz gegenüber (hier wird ausführlich „Wege zum Ruhm“ von Stanley Kubrick zitiert). Nach dem Schuss von Adrien liegen ihre Körper aufeinander, Adrien streichelt Frantz über das Gesicht, er umarmt den Toten, fast eine Liebesszene. „Ich bin gekommen, Sie um Vergebung zu bitten“. Das kann aber Anna nicht. Sie begleitet Adrien noch zum Bahnhof (54:10), nach dem Abschied fällt sie zurück in tiefste Trauer und Depression. Den Schwiegereltern verschweigt sie die Wahrheit. Wir sehen Trauer, viele Friedhofsszenen, Wind und Regen. Sie folgt dem Rat von Frantz in seinem letzten Brief nicht: „Versprich mir, falls mir etwas zustößt, behalte Deine Lebensfreude“. Sie geht wieder durch die kleine Bergunterführung, jetzt bleiben die Szenen schwarz-weiß. Ihr Selbstmordversuch im See scheitert (59:30).

Erst nach längerer Krankheit findet sie wieder Vertrauen in das Leben. Sie bekommt eine Werkausgabe von Verlaine, sie träumt vom Geige spielenden Frantz, Hoffmeister sagt ihr „Du musst leben“, jetzt liest sie langsam auch die Post, die aus Paris kommt. „Fahr nach Paris und suche Adrien“ sagt Magda und bereits auf dem Bahnsteig ruft Hans ihr „Bon Voyage“ nach. Auf der Zugfahrt sieht sie die Wunden des Krieges bei Menschen und Landschaften.

Sie sucht Adrien. Die Musik wird optimistischer, häufig scheint die Sonne, sie geht in die Oper, in den Louvre, sieht sich das Manet-Bild an (1:19:20) an, bekommt im Lazarett-Archiv eine falsche Spur, die sie aber in die richtige Richtung führt. Zum Chateau in Saulieu, in der Provinz, wo Adrien nach Psychiatrie-Aufenthalt bei seiner Mutter wohnt. „Sind Sie die kleine Anna“ wird sie von der Mutter empfangen. „Sieh mal wer da ist“, sagt sie dem vom Ausreiten zurückkehrenden Adrien.

Hoffmeister haben Ihnen verziehen, ich auch, wird Anna ihm noch mit vielen Hoffnungen im Gesicht sagen. Aber Adrien stellt ihr dann Fanny vor, seine Verlobte. Aschfahl, voller Trauer um die Lippen und in den Augen geht Anna in ihr Zimmer. Dort hängt an der Wand das Selbstmörderbild von Manet. Fanny gibt ihr für das Abenddinner ein Kleid von sich. „Adrien wollte in Deutschland den Platz des Mannes einnehmen, den er getötet hat“, sagt sie zu Anna (1:32). Anna hält die Situation nicht aus und geht, Adrien kommt hinterher. „Sie haben an Frantz gedacht“, „Ich habe an Sie gedacht“, „Sie verstehen gar nichts“. Fast kommt es am Schluss sogar noch zu einem Kuss. Aber nur fast. Am Morgen fährt Anna ab. Adrien bringt sie zum Bahnhof. „Meine Mutter will diese Heirat. Fanny hat mich immer geliebt“, erklärt er sein Verhalten. „Kommen Sie zu unserer Hochzeit?“ „Ich glaube nicht“, sagt Anna. Beim endgültigen Abschied kommt es dann zu einer festen Umarmung und einem sehr intensiven Kuss. „Zu spät“, sagt Anna. Sie schreibt an ihre Schwiegereltern über ihr Leben in Paris. „Ich bin glücklich“ und habe „wunderbare Augenblicke“ mit Adrien. Mit Lügen, haben wir gelernt, ist das Leben oft leichter.

In Farbe dann die wunderschöne Schlusssequenz: Anna geht durch den Louvre. Vor dem ‚Selbstmörderbild‘ von Manet sehen wir von hinten einen Mann sitzen, der Adrien sehr ähnlich sieht. Wir sehen auch Anna von hinten, mit neuer Kurzhaarschnitt-Frisur. Sie setzt sich neben ihn. Alles ist ab jetzt möglich oder auch nicht … Sie hat ihr Trauma und ihre Trauer überwunden, die Dunkelheit der deutschen Provinz verlassen und ist bereit für ein neues Leben in Paris. Ozon hat ein weiteres diffiziles Psychogramm einer starken Frau gedreht, die große Widerstände zu überwinden gelernt hat.