Lucky - Den Tod annehmen
zu David Lynch: Lucky, USA 2017
von Jürgen Laubhold

Schock, Unglaube, Leugnung, Wut, Verhandeln, Schuld, Depression und schließlich Akzeptanz und Annehmen. So werden Gefühle beschrieben, die ein Mensch durchlebt, wenn er sich mit seinem eigenen Tod konfrontiert sieht.
Die britische Band Pink Floyd hat das 1973 in ihrem Song „The great Gig in the Sky“ völlig ohne Worte ausgedrückt. 44 Jahre später greift auch John Caroll Lynch dieses Thema für seinen Film „Lucky“ auf. Dabei gelingt es auch ihm immer wieder, Gedanken und Gefühle auszudrücken und seine Geschichte ohne Worte weiter zu führen, indem er einfach seine Kamera sprechen lässt. Im Stil einer Kurzgeschichte erzählt er drei Tage aus dem Alltag eines alten Mannes und lässt uns miterleben, wie er mit der Gewissheit des Todes umgeht.
Mit großer Leichtigkeit, Humor und immer auch mit ebenso großer Empathie für die Figuren seines Films entwicket er die Handlung in ruhigen Bildern langsam, ganz im Vertrauen auf seine großartigen Schauspieler. Der Film ist eine Hommage an seinen Hauptdarsteller, Harry Dean Stanton. Er ist in fast jeder Einstellung zu sehen, und immer wieder ruht die Kamera in Großaufnahme auf seinem vom Leben gezeichneten Gesicht. Starke Bilder, wie ein Film im Film. Und wenn sie ihn auf seinem Weg verfolgt, wie er im Tempo einer Schildkröte durch die heiße, sonnengetränkte Landschaft stapft, ist sogar der Soundtrack dazu eine von ihm eingespielte Mundharmonika-Version von „Red River Valley“.

Stanton ist im September 2017, kurz nach Beendigung der Dreharbeiten im Alter von 91 Jahren verstorben. So ist es umso berührender, ihn hier in der Rolle dieses alten Mannes zu sehen, der sich mit seinem Tod auseinandersetzt und auf sein Leben zurückblickt.
„Harry Dean Stanton ist Lucky“, heißt es - sehr treffend - im Vorspann des Films.

Ein etwas abgelegenes kleines Holzhaus am Rande einer Wüsten-ähnlichen Kakteen-Landschaft. Der Tag erwacht. So auch Lucky, Hauptfigur im gleichnamigen Film von Lynch aus dem Jahr 2017.
Eine erste Zigarette noch im Bett, ein Griff zum Radio, der Sender spielt mexikanische Musik. Waschen, Rasieren und Zähne putzen, dann sehen wir den sehr in die Jahre gekommenen, hageren Mann im weißen Feinripp seiner Unterwäsche bei der Ausübung der 5 Tibeter - seiner täglichen Yoga-Routine. Wieder Zigarette, ein großes Glas kalter Milch aus dem ansonsten leeren Kühlschrank, rein in die Jeans und ein frisches (immer gleiches) Hemd, Cowboyhut und -Stiefel und raus in die gleißende Morgen-Sonne.

Ziemlich genau so startet wohl jeder Tag in Luckys Leben. Symbolträchtig steht dafür die großformatig eingeblendete Uhr seiner Kaffee-Maschine, die blinkend die - offensichtlich seit in Gebrauchnahme vom Werk voreingestellte und nie veränderte Zeit - 12.00 Uhr - anzeigt.
Auch der weitere Tagesablauf folgt einem sehr eingefahrenen Muster. Lucky ist auf dem Weg runter zum Ort und dem dortigen Coffeeshop.
„Du bist nichts!“, „Du bist auch nichts!“, „Danke!“. Mit diesem Dialog begrüßen sich Lucky und Joe, der Chef des Diners. Das ist minimalistisch, einfach, humorvoll und philosophisch zugleich. Eine der vielen starken Szenen des Films, in denen ohne viele Worte Atmosphäre geschaffen und Charaktere eingeführt werden. \\Man kennt sich. Nur Eingeweihte verstehen Sinn und Humor der Worte, und Lucky bekommt, ohne dass er bestellen müsste, seinen Kaffee - genau so, wie er es mag. Sein Stammplatz ist am Tresen und dort beginnt Lucky - mit Unterstützung der Angestellten - seine täglichen Kreuzworträtsel. Rechtzeitig aber steht er auf, um zuhause auf dem großen Sofa die täglichen Quiz-Shows im TV nicht zu verpassen, aufgrund der Hitze nun wieder in seiner Unterwäsche.
Die eingeblendete Werbung nervt, Lucky schaltet mit der Fernbedienung ab und widmet sich wieder seinen Rätseln. Als er an einem Wort hängen bleibt, wählt er die Nummer seines (vielleicht einzigen) Freundes. „Ist Realität ein Ding?“ Zur Klärung der Frage zieht Lucky das auf einem Pult bereit liegende Lexikon zu Rate: „Die Haltung, eine Situation so anzunehmen, wie sie ist und der entsprechende Umgang damit“, liest er seinem Freund am Telefon die Definition von „Realismus“ vor.
Eine zentrale Stelle des Films, wie später deutlich wird.
Bereits in der nächsten Szene zitiert er den Lexikoneintrag beim allabendlichen Besuch in Elaines' Saloon. Lucky trinkt dort seine üblichen 'Bloody Marys' und führt mit den Stammgästen gerne philosophische Gespräche. Er ist kein Freund vieler Worte, und Small Talk verabscheut er. Wenn der etwas kauzige Eigenbrötler etwas sagt, dann eben das, was einfach gesagt werden muss. 'Eine Seele existiert nicht', äußert er an diesem Abend in einer Diskussion über Freundschaft, ausgelöst durch seinen Freund Howard, dessen Schildkröte verschwunden ist.

Der nächste Tag beginnt wie jeder andere, dann jedoch kippt Lucky nach den Yoga-Übungen plötzlich um. Er rappelt sich wieder auf und begibt sich zum Arzt. Der bescheinigt ihm beste Gesundheit, bezeichnet ihn als 'zähen Hund', konfrontiert ihn aber mit seinem hohen Alter und damit verbunden mit seinem bevorstehenden Ableben. 'Oh Boy!', kommentiert Lucky seine Diagnose, sichtlich betroffen schiebt er den vom Arzt als Trost erhaltenen Lutscher in den Mund und schaut ins Leere.
Natürlich ist er sich seines Alters bewusst, aber dieser Arztbesuch lässt ihn sich wohl zum ersten Mal mit dem Unausweichlichen auseinandersetzen. Er ist ratlos. Als nun auch noch sein Stammplatz im Diner besetzt ist, verlässt er den Ort bereits nach kurzer Zeit. Wütend kickt er eine Blechdose vor sich her.
Erinnerungen kommen in ihm hoch. Zuhause angekommen betrachtet er das gerahmte Bild, das ihn als jungen Mann in Uniform zeigt. Beim täglichen Telefongespräch mit seinem Freund geht es dieses Mal nicht um Kreuzworträtsel. Lucky erzählt von einem Erlebnis, an das er schon lange nicht mehr gedacht hat. Als Kind schießt er im Spiel mit der Luftpistole auf eine Drossel. Der Gesang stoppt. Er bezeichnet das als den traurigsten Moment in seinem Leben: 'Die Stille war verheerend!'
Diese Erinnerung lässt ihn wohl am nächsten Tag von seinem üblichen Weg spontan in die Tierhandlung abbiegen. Dort fragt er nach einer Drossel, vielleicht um seine Schuld wieder gut zu machen. Die Verkäuferin verneint, zeigt ihm aber noch verschiedene andere Tiere. Lucky entscheidet sich, eine Kiste mit Heimchen mitzunehmen, die er so vor ihrem vorgesehenen Schicksal befreit, anderen Tieren als Futter zu dienen.

Am Abend bei Elaine geht es wieder um die davon gelaufene Schildkröte. Sie steht als Symbol für langes Leben, aber auch sie kann natürlich dem Tod nicht ausweichen, schleppt den Panzer, ihren Sarg, in dem sie begraben sein wird, ihr ganzes Leben lang mit sich.

„Wir kommen allein, und wir gehen allein“, sagt Lucky im Gespräch mit den üblichen Gästen. „Das ist trostlos!“ antwortet jemand. „Nein! das ist wunderschön: Allein besteht aus zwei Worten: Alle und Eins!“
Doch Lucky ist noch weit davon entfernt, das Ende seines Lebens zu akzeptieren. Er ist unausgeglichen und gereizt. Sein Ärger steigert sich, als er seinen Freund Howard zusammen mit einem Notar am Tisch sitzen sieht. Howard bespricht mit dem Notar sein Testament, und Lucky regt sich darüber auf, dass diese Juristen sogar noch mit dem Tod Geschäfte machen wollen. Er droht dem Notar Prügel an und erwartet ihn draußen vor der Tür.
Doch nicht der Notar, sondern Paulie, Partner von Elaine, kommt zu ihm und versucht ihn zu beruhigen. „Geh nach Hause, Lucky!“ Paulie dreht sich um und verschwindet schließlich hinter einer Häuser-Ecke. Lucky bleibt noch einen Moment gedankenverloren stehen, dann folgt er ihm. Übergangslos führt der Film seine Zuschauer*innen nun von der Handlungsebene direkt in Luckies Traumwelt. Lauter werdende, schrille Rockmusik begleitet Lucky auf seinem Weg, die Szene wird in grelles rotes Licht getaucht, schließlich kommt er vor einem Leuchtzeichen zum Stehen, auf dem - jetzt groß eingeblendet - in grüner Schrift „EXIT“ zu lesen ist.
Lucky schreckt aus seinem Albtraum hoch, es ist mitten in der Nacht, Er richtet sich auf und zündet sich eine Zigarette an. Es ist eine der Szenen im Film, bei der die Kamera und der Soundtrack die Geschichte erzählen. „I see the darkness“ singt Johnny Cash und spiegelt damit Luckies Innenleben.
„Ich habe Angst!“ vertraut Lucky am nächsten Morgen Loretta an, der Bedienung aus dem Diner. Sie hatte sich Sorgen gemacht, weil Lucky nicht zur üblichen Zeit zum Kaffee trinken gekommen war. Sie umarmt ihn zum Abschied liebevoll, nachdem sie vorher gemeinsam auf dem Sofa Gameshows geschaut und Weed geraucht haben.

Später erzählt er Joe, dem Besitzer des Diners, von einem Kindheitserlebnis, als er - alleingelassen - eine Panikattacke durchlebt hat. Anschließend betritt der Notar den Laden. Nach dem Streit am Vortag entsteht zunächst eine unangenehme, angespannte Atmosphäre zwischen den beiden, aber nach einigem Hin und Her kommen sie doch miteinander ins Gespräch. Bob, der Notar, erzählt von einer Begebenheit, in der er beinahe durch einen Unfall ums Leben gekommen wäre. Für ihn Anlass, direkt danach sein Testament aufzusetzen.
Das Gespräch über den Tod lässt eine Nähe zwischen den beiden entstehen, die gestern noch heftig gestritten hatten.

Noch einschneidender wird eine Begegnung am folgenden Tag. Lucky, der im Krieg auf einem Schiff als Koch der Armee angestellt war, erkennt, dass es sich bei dem fremden Mann, der am Tresen Platz genommen hat, um ein ehemaliges Mitglied der Amerikanischen Marines handelt und eröffnet das Gespräch. Beim Austausch über ihre Kriegserlebnisse erzählt der ehemalige Soldat nun von einem Erlebnis auf den Philippinen. Die Bevölkerung dort hatte große Angst, weil sie Erzählungen von Folter und Vergewaltigung durch die amerikanischen Soldaten gehört hatten. In großer Zahl begingen sie deswegen Selbstmord. Plötzlich aber stand nun ein kleines Mädchen vor den Soldaten. Zu ihrer großen Verwunderung zeigte das Mädchen aber keine Angst, stattdessen hatte sie ein Lächeln im Gesicht - „ein Lächeln, das von innen kommt!“. Tief getroffen erkennen die Soldaten, dass dieses Mädchen weiß, dass sie getötet wird, aber als Buddhistin ihr Schicksal mit einem Lächeln begrüßt.

Auch Lucky ist sehr beeindruckt, und die Geschichte löst bei ihm eine Veränderung aus. Zu Hause angekommen, korrigiert er die Zeitanzeige der Kaffeemaschine, akzeptiert, dass die Zeit nicht stillsteht und für ihn nun langsam abläuft.

Er geht zu Juans Geburtstagsfeier. Der kleine Junge wird 10 Jahre alt, und seine Mutter, die mexikanische Besitzerin des Tabakladens, hatte Lucky bei einem seiner täglichen Einkäufe dazu eingeladen. Sichtlich genießt er die familiäre Atmosphäre des Festes, und er singt ein Lied für die Gäste.
Noch am Abend schwärmt er bei Elaine vom Geschmack des Flan, den man ihm angeboten hat. Sein Freund Howie erzählt wieder von seiner Schildkröte. Auch er hat eine Entwicklung durchgemacht, akzeptiert nun, dass sie ihn verlassen hat, bereut sogar, ihrer Freiheit so lange im Weg gestanden zu haben und überlässt dem Schicksal, ob es ein Wiedersehen geben wird.

Lucky möchte eine Zigarette anzünden. Elaine stoppt ihn und weist ihn auf ihr Hausrecht und das damit verbundene Rauchverbot hin. Diese Diskussion ist wohl schon einige Male geführt worden. Nach einem kurzen Disput steht Lucky auf und bewegt sich Richtung Ausgang. Vor der Tür bleibt er aber stehen und dreht sich noch einmal um. Zentral in der Mitte des Bildes - wie auf einer Bühne - spricht er nun zu seinen Zuhörern. Eigentum sei Einbildung, sagt er, Autorität willkürlich und subjektiv. 'Die Wahrheit ist ein Ding', zitiert er erneut, „dem muss man sich stellen und es hinnehmen“, aber was nun folgt ist mehr als angelesenes Lexikon-Wissen. Lucky offenbart seine Weltsicht, seine Philosophie, die Elemente des Existentialismus und des Buddhismus enthält. „Alles verschwindet ins Dunkel, ins Nichts, und keiner ist dafür zuständig. Was bleibt …? Ungatz - Nichts! Und was machen wir damit? … Lächeln!“
Zündet sich eine Zigarette an und verlässt das Lokal.

Lucky wirkt mit sich im Reinen. Nun kann er seine Situation so annehmen und akzeptieren, wie sie ist. Selbst als er vor dem Etablissement stehen bleibt, das ihn vor Jahren wegen unerlaubten Rauchens vor die Tür gesetzt hat. Statt des üblichen Fluchs hat er nun ein Lächeln im Gesicht, und er kann die Schönheit des Gartens erkennen. Bezeichnenderweise heißt das Lokal „Eden“.

Auf dem Nachhauseweg macht er einen Abstecher zu den großen Kakteen. Sein Freund Howard hat ihm erzählt, dass sie so alt sind, wie seine entlaufene Schildkröte. Voller Demut bleibt er vor ihnen stehen. Wieder braucht der Film keine Worte oder besonderen Effekte. Die Kamera ruht formatfüllend auf dem Gesicht des alten Mannes. Der zündet sich erneut eine Zigarette an, blickt dann - zum ersten Mal - direkt in die Kamera. Und lächelt …

„Du wirst älter. Es endet damit, dass du alles am Leben akzeptierst“, erklärte Harry Dean Stanton dem „Observer“ 2013. „Leiden, das Grauen, Liebe, Verlust, Hass - alles. Es ist alles eh nur Film.“