Benutzer-Werkzeuge

Webseiten-Werkzeuge


das_restaurant_goldener_krug_eine_raumanalyse_zu_auf_der_anderen_seite_der_hoffnung_gerda_wieschermann

Der Goldene Krug – eine Raumanalyse zu A. Kaurismäkis Film 'Auf der anderen Seite der Hoffnung' (G. Wieschermann)

Filmräume

Bei der Rezeption von Filmen gibt es immer 'reale' und 'imaginäre' Räume: der Raum, in dem der Zuschauer sich befindet und der auf der Leinwand gezeigte Raum. „ Entscheidend ist hier die Einsicht, dass der Film, indem er Räume abbildet, neue Räume schafft.“1) Er gebraucht hierbei eine Fülle an filmischen Mitteln (Kameraeinstellung, Schnitt, Licht, Montage etc.) und hat daher ganz andere Möglichkeiten als das Theater, Räume entstehen zu lassen. Dem Betrachter/Zuschauer steht keine objektiv gegebene Wirklichkeit gegenüber, sondern er versetzt sich als 'auffassendes Subjekt' in eine andere Umgebung und bewegt sich in ihr. „Wenn der Vorführraum des Films als heterotoper Raum eine Höhle ist, so eröffnet der Film auf der Leinwand den Blick in einen Tunnel.“2) Hierbei kann man davon ausgehen, dass Filmzuschauer die 'Architektur des Zuschauens' vergessen, „so dass die Illusion entsteht, dass sie körperlich im Filmbild anwesend sind“3) Es entsteht eine neue Wirklichkeit, die aus einem fiktiven Ganzen 'herausgeschnitten' ist. „Sehen wir einen Film, merken wir nicht, was weggelassen wurde, was außerhalb des Bildausschnitts der Kamera liegt.“4) Eine Besonderheit des Films liegt dabei darin, dass der Rezipient Gegenstände und Räume ergänzt und zu einem zusammenhängenden Bild konstruiert, indem er automatisch sein lebensweltliches Vorwissen einbringt. Im Kopf des Zuschauers entsteht ein 'master-space', Bilder des on- Raumes und Bilder des off- Raumes werden miteinander verknüpft. „Das Szenische umfasst auch das, was nicht im Bild zu sehen ist. Das Hör- und Sichtbare konstituiert das, was man die Horizonte der Diegese nennen könnte.“5) Der Raum als bloße Kulisse für Figuren und Handlung ist spätestens seit dem 'spatial turn' einer Sicht des Raumes als gestaltendem Element gewichen. Handelnde Figur und Raum bedingen und kreieren sich gegenseitig, sind miteinander verwoben. Räume im Film werden daher oft so entworfen, dass sie auf die soziale und psychische Verfassung ihrer Bewohner hinweisen, sie geradezu konstituieren und so eine mannigfache symbolische Bedeutung annehmen.6)

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint es interessant, der speziellen Wirkung von A. Kaurismäkis Film 'Auf der anderen Seite der Hoffnung' über die Methode einer Raumanalyse auf die Spur zu kommen. Warum hat der Zuschauer bei diesem Film - wie in vielen Rezensionen erwähnt – den Eindruck, dass eine besondere Wirkung der erzählten Welt von ihrer Kargheit, ihrem Minimalismus, ausgeht? Der Begriff des 'Lakonischen Stils' drängt sich beim Sehen auf, welchen Beitrag leisten hierbei die Filmräume? Es soll untersucht werden, inwieweit die Gestaltung der sichtbaren wie unsichtbaren Räume die Rezeption des Zuschauers beeinflusst. Welches Vorverständnis/Bild im Kopf verknüpft der Zuschauer mit den Filmräumen zu einer fiktiven Realität? Wie erzählen Räume als soziale Konstruktionen des Menschen eine Geschichte?
Für die Analyse wurde ein bestimmter Raum ausgewählt, der vielleicht am deutlichsten die Figuren und ihre Geschichte(n) in diesem Film abbildet: der Gastraum des Restaurants 'Zum goldenen Krug'. Hier treffen die beiden Handlungsstränge aufeinander, hier werden die Hauptfiguren 'sichtbar'. In diesem Raum gibt es Veränderungen, wodurch werden sie initiiert und was bewirken sie? Welche Rolle spielen hierbei die Requisiten? „Filme lehnen sich an die Konventionen des Alltagslebens an, nutzen dessen Bedeutungspotenziale, um eigene Bedeutungen herzustellen. Die Kunst der Requisite besteht darin, Objektszenarien als Bedeutungsfelder zu inszenieren.“7) Der Raumaspekt der mise-en-scene soll analysiert werden, zumal bei einem Regisseur, der in einem Interview äußert: „Als Regisseur ist mein liebstes Bild eine grau-blaue Wand und davor zwei Menschen. Wenn möglich, sogar nur eine Person oder noch besser: nur die Wand.8) Der Gastraum des 'Goldenen Krugs' (hier deutet sich schon eine Raummetapher an) zeigt uns auch eine solche Wand, die einen Teil der Geschichte spiegelt.

Der Gastraum

Der hohe Gewinn beim Pokerspiel versetzt Waldemar Wykström in die Lage, den geplanten Berufswechsel vorzunehmen: er übernimmt das Restaurant 'Zum Goldenen Krug'.
Als er mit dem Makler zu einer ersten Besichtigung fährt, erhält auch der Zuschauer zunächst einen Blick auf das Äußere des Lokals (00:34:51): die gepriesene gute Lage erweist sich als starke Übertreibung, man denkt eher an ein etwas heruntergekommenes Gewerbegebiet mit sichtbaren Mülltonnen und betoniertem Vorplatz. Leuchtschrift und Fenstergestaltung wirken alt, die Eingangstür hat viele Gebrauchsspuren, über das brüchige Mauerwerk laufen alte Kabel.
Dieser Eindruck erweitert sich im Inneren; der Zuschauer wird durch einen 'establishing shot' in den Raum eingeführt (00:35:18): in einer Totalen wird etwa zwei Drittel des Raumes gezeigt, so dass eine Orientierung leicht fällt. Man sieht neben der Eingangstür eine kleine Bar vor einer rot-braunen Holzvertäfelung, die auch schon den Eingangsbereich/die Garderobe bestimmte, einige kleine, mit weißen Tischtüchern gedeckte Tische mit dünnen Stahlbeinen stehen an den Wänden mit grauen Kunststoffstühlen auf Metallbeinen. Zwei weiße Türen auf einer mittelblau gestrichenen Wand weisen durch Buchstaben auf eine Damen- und eine Herrentoilette hin. Fast die Hälfte des Bildes nimmt ein warm-roter Teppichboden ein. Der Rest des Raumes wird etwas später, als abends Gäste an den Tischen sitzen, sichtbar: eine Wand ist halbhoch mit grauem Holz verkleidet, darüber in einem sanften creme-weiß gestrichen, die Wand gegenüber dem Eingangsbereich ist wiederum blau. Vor dieser Wand, auf einem kleinen, mit Teppichboden verkleideten Podest, auf dem später eine Band spielt, steht eine alte Jukebox, aus der ab und zu Musik zu erklingen scheint. Neben einigen Messingleuchten gibt es drei Bilder an den Wänden: eine Darstellung von Jimmy Hendrix und zwei gemalte, eher expressionistisch wirkende Bilder, die die Farben des Raumes aufgreifen. Insgesamt wirkt die Einrichtung alt und etwas zusammengewürfelt, ein schwarzes Telefon aus den fünfziger Jahren hängt mitten auf der Wand des Eingangs, und ein Feuerlöscher ist gut sichtbar. Stromleitungen und Heizungsrohre liegen auf dem Putz und sind mit der jeweiligen Wandfarbe überstrichen. Die Fenster, die zu Anfang bei der Vorstellung des Maklers von außen sichtbar waren, sieht der Zuschauer im Innenraum selten, und wenn, dann nur den unteren, von Gardinen verhängten Teil: das Außenleben scheint wenig Verbindung mit dem Innenraum zu haben. In der Mitte des Raumes ist eine auffallend große Freifläche, offensichtlich erwartet man keine hohe Anzahl an Gästen.
Die Erwartungen des Zuschauers an ein Restaurant, einen 'Gast-Raum', werden nicht erfüllt, es fehlt an Wärme und Behaglichkeit. Das zweckmäßige, funktionale Mobiliar im Stil der Fünfziger/Sechziger Jahre steht ohne Bezug zueinander im Raum, er wirkt wenig einladend, verströmt eine gewisse Wartesaalatmosphäre und erinnert an Speiselokale der früheren DDR. Die Vorstellung, dass an diesen Tischen mit Lust und Genuss gegessen, getrunken und gefeiert wird, erscheint absurd. Eine unpersönliche, kühle Stimmung liegt über dem Raum, auch der relativ harte Kontrast der monochromen Farbflächen trägt zu dieser Wirkung bei.
Bei der Zahlung der Ablösesumme preist der Vorbesitzer das Lokal und meint: „..ein bißchen Farbe und…“ Waldemar antwortet: „zweifellos“ (00:37:11). Doch er verändert nicht das kleinste Detail an diesem Raum, obwohl er die finanziellen Mittel dazu hätte: ein wortkarger Mann in einem leer wirkenden Raum, der von nun an ein Teil seines Zuhause sein wird. Solch eine Umgebung ist ihm nicht fremd, die Wohnung, die er bei der Trennung von seiner Frau verlassen hat, ist ähnlich unpersönlich, austauschbar.
Entsprechend distanziert behandelt Waldemar zu Anfang seine Mitarbeiter, die aufgereiht vor ihm stehen: „Wer von Euch gehört zum Kauf dazu?“ „Das sind wir.“ (00:38:05) Menschen werden Teil des Inventars und erfüllen lediglich eine Funktion. Dennoch behält Waldemar diese Mitarbeiter, den Türsteher, der eine recht fragwürdige Aufgabe erfüllt, den Koch, der gelangweilt und schläfrig bei der Erstbesichtigung auffällt und hauptsächlich Doseninhalte 'zubereitet', und die Bedienung, die sich auf das Notwendigste beschränkt. Hier unterläuft Kaurismäki ein zweites Mal die Erwartungen des Zuschauers.
Eine Besonderheit in diesen ersten Gastraum-Szenen stellt die Tür neben der Bar zur Küche dar: eine beigefarbene Schwingtür mit einem rautenförmigen Fensterausschnitt. Der Koch schaut von der Küche aus durch dieses Fenster, putzt gelangweilt mit einem Lappen die vermeintliche Glasscheibe und legt dann eine Hand auf den Rahmen in den Gastraum – eine erste Irritation des Zuschauers setzt ein, die ein Schmunzeln hervorruft: die Figur des Kochs, bisher immer ernst, einsilbig und träge, zeigt den Humor Kaurismäkis, hier mit einer pantomimischen Durchbrechung der Zuschauererwartung.
Solche ironischen Momente gibt es auch an anderen Stellen des Films, etwa wenn die Bedienung sich von Khaleds Schwester mit ernsten Worten verabschiedet: „I have to open the Gourmet- Mekka.“ (01:29:42) Es fehlt in diesem Restaurant jegliche Speisekarte, eigentlich ein wesentliches Requisit, die Kamera zeigt nur auf ein Schild im Fenster, auf dem mit Steckbuchstaben die beiden jeweiligen etwas phantasielosen Tagesgerichte genannt werden. Es wird nicht wirklich gekocht und daher auch nicht gespeist in diesem Restaurant, es ist kein Raum der sinnlichen Erfahrung.
Am Abend sitzen immerhin an sechs von sieben Tischen Gäste, doch auch dann vermittelt der Gastraum keine Lebendigkeit, die ruhige Musik aus dem Off hört man mehr als die murmelnden Gespräche der Gäste, sie werden zu Statisten, die vor ihren Gläsern sitzen und sich leise unterhalten. Menschen werden zur Ausstattung eines Raumes, sie fügen sich ein in ein etwas steriles, unbelebtes Interieur, ihre wenigen Bewegungen bleiben schematisch, stereotyp. Eine Grundstimmung der Melancholie breitet sich aus.
Räumliches wird durch Bewegung erfahrbar, und filmische Räume sind im Gegensatz zum Theater immer in Bewegung, „es sind genuin bewegte Räume, die einer kontinuierlichen und mehrschichtigen Transformation unterliegen.“9) Doch in diesem Raum ist die Bewegung sowohl der Kamera, also unser Blick, als auch die Bewegung im Blickfeld auf ein Minimum reduziert.
Häufig stehen die Figuren wie aufgereiht oder sitzen und stehen wie platziert um einen Tisch herum. Solche Rauminszenierungen stellen Machtverhältnisse dar10), und man kann sehr gut erkennen, wie sie sich durch die Anordnungen in diesem Raum leicht verschieben. Treten die Mitarbeiter in den ersten Restaurantszenen regelrecht vor ihrem neuen Chef aufgereiht an, etwa bei der Übernahme (00:38:05) oder nach dem misslungenen Versuch mit dem Sushi- Restaurant (01:17:44), verändert sich je nach Situation die Anordnung : nach der Überprüfung durch die Behördenmitarbeiter rücken alle näher zusammen (01:08:34), bis auf die Bedienung sind alle auf Augenhöhe mit Waldemar, sie haben gemeinsam eine schwierige Situation bewältigt. Später sitzen sie sogar gemeinsam rauchend um den 'Privattisch' des Chefs und beraten über Khaleds Zukunft. Der Raum korrespondiert mit den Figuren, es scheint eine Wechselwirkung zu geben.
Nach dem 'japanischen Abend' schickt Waldemar seine Mitarbeiter nach Hause (01:18:03), nimmt eine Whiskyflasche und setzt sich an einen der hinteren Tische, an die Wand mit dem Bild von Jimmy Hendrix, zu dem die Musik in diesem Raum zu keiner Zeit einen Bezug hat. Ein breiter, klarer Lichtstrahl fällt von draußen auf die blaue Wand und den weißen Tisch, an dem er Platz genommen hat. Das Licht kontrastiert mit einer gewissen Härte die Wand. Waldemar trinkt stumm und allein, und als auch noch das Licht der Jukebox erlischt, wirkt er einsam und verloren an einem Ort ohne Geborgenheit, Heimat. Nachdem der Türsteher den Tipp gegeben hat, ein Sushi-Restaurant liege im Trend der Zeit, wird das Lokal verändert: der elektrisch beleuchtete Schriftzug 'Kultainen Tuoppi' draußen wird mit einem nicht ganz passenden Schild mit der Aufschrift 'Imperial Sushi' in Pinselstrichen überhängt (01:14:17) , wobei der frühere Name deutlich sichtbar bleibt – ein Provisorium auf einer Bretterwand mit laienhaft verlegten Stromkabeln.
Dem Gastraum wurden einige wenige Requisiten hinzugefügt: drei Lampions hängen über der Bar, die weißen Tische sind mit japanischen Accessoires gedeckt: Reisschalen, Sake-Becher, Saucenschälchen und Stäbchen, ein Tischläufer mit asiatischem Muster liegt auf der Bar, vor der braunen Falttür zu Waldemars Zimmer hängen zwei Papierbahnen mit japanischen Schriftzeichen, und ein Gong in der Küche kündigt jetzt die Öffnungszeit des Restaurants an. Auch eine goldene winkende Katze-Manekineko-steht auf der Bar.(01:17:44) Es sind die gängigen Requisiten, die in Europa den Klischeevorstellungen von japanischen Restaurants entsprechen. Durch das bloße Hinzufügen einiger vermeintlich japanischer Gegenstände entsteht jedoch noch kein neuer Raum mit anderer kultureller Identität. Vielmehr erscheinen Figuren und Raum wie die Verkleidung einer Schultheaterbühne, auf der halbherzig und schlecht vorbereitet agiert wird. Die Angestellten, kostumiert im Samurai-Look, verhalten sich kaum anders als vorher: relativ stumm, mit minimalsten Bewegungen, erfüllen sie ihre Rolle. Als auch noch der Fisch für Sushi ausgeht und ersetzt wird durch finnischen Hering in Salzlake (01:16:20), ist der Kulturclash perfekt. Kaurismäki spielt lustvoll mit Stereotypen und Klischees, es entsteht sehr viel Situationskomik. Die Gäste dieses Abends, japanische Touristen auf einer Busreise, sind im Gegensatz zu den Angestellten sehr europäisch gekleidet und frisiert – ein Rollentausch, der die Komik verstärkt. Eine zweite 'Verwandlung' des Gastraumes erlebt der Zuschauer, als ein Tanzabend im 'Goldenen Krug' veranstaltet wird. In der Raumecke, in der die Jukebox auf dem kleinen Podest stand, spielt eine vier-köpfige Band einen melancholischen finnischen Tango. (01:18:47) Vier Gäste sitzen an einem Tisch, hören schweigend der Musik zu. Die nächste Einstellung zeigt in einem low-shot Beine und Füße von tanzenden Paaren, anonyme Figuren im Takt der Musik. Der traurige Text des Liedes spiegelt sich auf dem Gesicht der Bedienung, die beobachtet, wie der Koch in ziviler Kleidung mit einer jungen Frau tanzt. Es wird nicht gesprochen, selbst an einem Tanzabend entsteht keine fröhliche oder gar ausgelassene Stimmung. So verschmelzen Raum und Figuren in ihm zu einer stimmigen Einheit, geprägt von einer Distanziertheit und Melancholie.

Und dennoch ist dieser Raum auch ein Raum für Menschlichkeit: Khaled bekommt nach dem ersten schmerzhaften Aufeinandertreffen mit Waldemar eine Mahlzeit (01:01:50), er sitzt mit Waldemar an einem der Tische, die anderen sind um ihn herum und bedienen ihn, er ist in diesem Moment ein wirklicher Gast (im Gegensatz zum zuallererst gezeigten Gast, dem schematisch ein steriles Gericht serviert wird).(00:39:39) Im Verlauf der Geschichte wird das Restaurant Schutz- und Lebensraum für Khaled, er bekommt eine Arbeit, verdient eigenes Geld und erhält hier eine neue Identität, die ihm eine Lebensperspektive ermöglicht. Er durchläuft einen kleinen 'Aufstieg' von der Putzhilfe über den Türsteher zum Koch und wird Teil eines Teams. Aus der so gewonnenen Sicherheit heraus entwickelt Khaled sogar Humor: nach der Kontrolle durch die Mitarbeiter der Behörde (01:06:02), bei der er sich mit dem Hund auf der Herrentoilette verstecken muss, erzählt er ironisch- witzig über sein 'Gespräch' mit dem Hund. Für Khaled wird das Restaurant ein Ort der Zuflucht, ein Ort, an dem Menschen sich für ihn einsetzen und ihm bei der Zusammenführung mit seiner Schwester helfen.
Auch Waldemar zeigt hier eine andere Seite seiner Persönlichkeit: neben aller Schroffheit („schön, dass du deinen Platz kennst“)(01:06:02), gibt es Zusammenhalt und Zuneigung, nach dem Misserfolg des Sushi-Abends – die Japaner haben wortlos das Lokal verlassen - sagt er fast väterlich zu seinen Mitarbeitern: „Geht nach Hause, ich mach noch sauber.“ (01:17:47) Der Hund, den er den Mitarbeitern strikt verbietet, ist auch am nächsten Tag noch da. Er sucht nach Möglichkeiten, Khaled zu helfen und bezahlt seinen gefälschten neuen Ausweis. Für Waldemar beginnt der Raum langsam eine Lebensgrundlage, ein Teil seiner selbst zu werden, in den er seine Frau einbeziehen möchte: „Ich hab ein gut gehendes Lokal…brauch 'ne Oberkellnerin.“ (01:28:44) sagt er lakonisch, obwohl der Zuschauer längst beobachten konnte, dass keine zweite Bedienung notwendig ist. Empathie und Gefühle werden versteckt gezeigt, mit kargen Worten, in Andeutungen, fast unbeholfen. Raum und Figur gehen eine Symbiose/ Entsprechung ein.

Rückzugsort und Transitraum

Im Gegensatz zu den anderen Räumen dieses Films – der Schlafsaal des Flüchtlingsheims, das Polizeigebäude und das Büro der Ausländerbehörde sind austauschbare 'Nicht-Orte'11) – vermittelt der Gastraum des 'Goldenen Krugs' eine gewisse Identität und Verortung. Doch er bleibt ein Raum der Ambivalenz: vordergründig schon durch die kontrastierenden Farben rot und blau gezeichnet, bewegen sich in ihm Antihelden und Randexistenzen. Für Waldemar ist er Existenzgrundlage, ein 'Rückzugsort' mit Hoffnung und Perspektive (neue Gemeinschaft mit seiner Frau). Die Zukunft bleibt allerdings unsicher (Wirtschaftlichkeit, Auflagen der Kontrollbehörde). Für Khaled ist er Zufluchts- und Schutzraum für eine gewisse Zeit - ein Transitraum, wie all die Räume, in denen er sich auf seinem Weg aufgehalten hat. Raummodelle sind materialisierte Gesellschaftsnormen und -vorstellungen.12) So ist dieser Gastraum in seiner Kargheit und kühlen Fremde, mit der der Regisseur ironisch spielt, eine Projektionsfläche für die abseits liegenden Randgebiete unserer postindustriellen Gesellschaftsräume.

Literatur

J. Binotto, Räume, Gänge, Kammern, Straßen. Das Unheimliche im Film in: N. Mitterer (Hg.):Zwischen den Worten, Innsbruck 2015

N. Bredella, Architekturen des Zuschauens. Imaginäre und reale Räume im Film, Bielefeld 2009

A. Fichert, Die Ästhetik der Kargheit, Aki Kaurismäki in: N. Grob, B. Kiefer, R. Mauer, J.Rauscher(Hg.), Kino des Minimalismus, Mainz 2009

J. Dünne, St. Günzel, Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2006

W. Faulstich, Grundkurs Filmanalyse, Paderborn 2008

L. Frahm, Jenseits des Raums, Bielefeld 2010

K. Hickethier, Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart 2012

W. Hallet/ B. Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009

J. Wiedhöft, Aki Kaurismäki. Ein finnischer Autorenfilmer – Analyse seines Stils und seiner Themen, Mittweida 2015

J. Wood, Die Kunst des Erzählens, Reinbek 2016

H.J. Wulff, Die kontextuelle Bindung der Filmbilder: on, off, master space. Ein Beitrag zur Raumtheorie des Films zit. nach: http://www.derwulff.de 10.08.2018

1)
N. Bredella, Architekturen des Zuschauens. Imaginäre und reale Räume im Film, Bielefeld 2009, S.17
2)
J. Binotto, Räume, Gänge, Kammern, Straßen. Das Unheimliche im Film, 2014, S.148
3)
N. Bredella, a.a.O. S.22
4)
J. Wood, Die Kunst des Erzählens, Reinbek 2016, S. 49
5)
H.J.Wulff, Die konstextuelle Bindung der Filmbilder: on, off, master space. Ein Beitrag zur Raumtheorie des Films. 2009 zit. nach http://www.derwulff.de
6)
N. Bredella, a.a.O. S.18
7)
H.J.Wulff, a.a.O. S.7
8)
M. Rothe, Der Griffith in mir ist zu kurz gekommen, in: Frankfurter Rundschau 30.05.1996
9)
L. Frahm, Jenseits des Raums, Bielefeld 2010, S.15
10)
W. Hallet/B. Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur, Bielefeld 2009, S.11
11)
J. Dünne, Forschungsüberblick „Raumtheorie“, 2004, pdf-Datei S.7, 07.08.2018
12)
W. Hallet/B. Neumann, a.a.O., S.11
das_restaurant_goldener_krug_eine_raumanalyse_zu_auf_der_anderen_seite_der_hoffnung_gerda_wieschermann.txt · Zuletzt geändert: 2020/12/20 13:46 von admin