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Der Gelehrtensteins als Motiv für die Figur des jungen Kim Ki-woo im Film „Parasite“ von Bong Joon-Ho (Südkorea 2019) (Brigitte Anthes-Kettler)

1. Einleitung

In der Lebenswelt der Figuren des Films „Parasite“ im städtischen Südkorea tritt ein Objekt besonders hervor, das zur Jahrhunderte alten koreanischen Tradition gehört. Es handelt sich um einen „Suseok“, einen Betrachtungs- oder Gelehrtenstein. Er wird im Film nicht nur immer wieder prominent ins Bild gerückt, sondern erhält auch eine symbolische Funktion im Handlungsgeschehen.
Er soll hier zunächst in seiner Gestalt und in seinem historischen, kulturellen und daher für Koreaner*innen sinnstiftenden Hintergrund beschrieben werden, um seine Wirkung innerhalb des Films verständlicher zu machen.1)
Dieser „Suseok“ ist ein Landschaftsstein, der so, wie er ist, in der Natur gefunden und nicht bearbeitet wurde. Das Exemplar in diesem Film (seine ungefähren Maße: Länge 50 cm, Höhe 30 cm, Breite am Fuß 20 cm) sieht aus wie die Miniaturausgabe eines hohen, zerklüfteten Berges mit mehreren Spitzen und besteht aus hartem, dichtem Gestein in senkrechten, farblich variierenden Schichten, die Schluchten und schroffe Abhänge erkennen lassen. Damit man ihn rundherum betrachten und auf seinen Schreibtisch stellen kann, wird er am Fuß begradigt und auf einem der Basis angepassten, geschnitzten Tablett aus edlem Holz präsentiert.
Die Betrachtungssteine wurden in China bereits vor 3000 Jahren hochgeschätzt. Seit der Tang Dynastie im 9. Jh. wurden sie den von Menschen geschaffenen Kunstwerken gleichgestellt. Sie zierten den Schreibtisch von Gelehrten, Künstlern und hohen Staatsbeamten. Diese chinesische „Petrophilie“, die Verehrung der Steine, verbreitete sich auch nach Japan und Korea und blieb dort bis heute erhalten. Durch den Einfluss des Westens nach dem 2. Weltkrieg etwas in Vergessenheit geraten, sind sie seit den 80er Jahren allerdings wieder bei reichen Geschäftsleuten beliebt. Wer als kultiviert gelten will, schmückt sich damit und zahlt hohe Preise.
Die Betrachtung und Wertschätzung dieser Kunstwerke der Natur sind verbunden mit den philosophischen und religiösen Lehren des Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus, die den Einklang zwischen Mensch und Natur hervorheben. Hier haben natürliche Objekte auch moralische Qualitäten, die menschlichen Tugenden entsprechen. Ein Landschaftsstein, wie er im Film gezeigt wird, repräsentiert Stabilität, Langlebigkeit und Unsterblichkeit und soll den Respekt dessen fördern, was durch Zeit und Alter geschaffen wird. Seine meditative Betrachtung kann die Fantasie anregen oder auch Trost und Ruhe spenden. Er kann auch mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen werden und damit ein Eigenleben entwickeln, das den Besitzer obsessiv erfasst. Schon im 9. Jh. warnte der Begründer dieser Petrophilie, dass sie süchtig machen könne.

Der Landschaftsstein als Requisit taucht an entscheidenden, dramaturgisch wichtigen Momenten des Films immer wieder auf. Daher bietet es sich an, ihn genauer zu untersuchen: Welche Rolle spielt der Stein für die Figuren und ihr Verhältnis zueinander und was verdeutlicht er uns dramaturgisch über die Weiterentwicklung des Geschehens?
Im Folgenden wird seine Bedeutung als Handlungsmotiv für die Figur des jungen Kim Ki-woo im Lauf des Films verfolgt, wobei zwei Sequenzen genauer analysiert und interpretiert werden.

2. Detailanalyse und Interpretation der Sequenz 0:06:09 - 0:10:30 Der Stein als Geschenk für die Familie Kim

Zu Beginn gibt uns der Film einen Einblick in das ärmliche Leben der Familie Kim, die sich mit dem Falten von Pizzakartons über Wasser hält. Vater Ki-taek und Mutter Chung-sook wohnen mit Tochter Ki-jung und Sohn Ki-woo (beide um die 20 Jahre alt) am Ende einer T-Kreuzung in einer belebten Gasse. Ihre kleine Souterrain-Wohnung in einem einfachen Viertel der Stadt ist verwohnt und schäbig, aber aufgeräumt. Die Bücherregale, Bilder und Erinnerungsstücke an den Wänden weisen auf gehobeneres Lebensniveau in der Vergangenheit der Familie hin. In der Wohnküche gestattet ein breites, vergittertes Fenster unter der Decke, direkt oberhalb des Straßenniveaus, einen Blick auf das Geschehen in der Gasse.

Bei Einbruch der Dunkelheit sitzt die Familie Kim am Küchentisch und feiert mit Dosenbier der Marke „Filite“2) den wiedererlangten illegalen WLAN-Zugang für ihre Mobiltelefone. Die Stimmung kippt als sie voller Abscheu durch das Fenster einen Betrunkenen beobachten, der sich vor ihnen, hinter einem Müllbehälter erleichtern will, verjagen ihn aber nicht. Auf der Gasse nähert sich ein junger, elegant gekleideter Mann auf einem Motorroller. Er stellt ihn ab und geht mit einer großen Holzkiste vor sich auf den Händen auf das Haus zu. Mit lauter Stimme herrscht er den Betrunkenen an, er solle sich zusammenreißen. Ki-woo springt elektrisiert auf – er hat seinen Freund Min-huyk erkannt. Die Familie ist beeindruckt von dessen bestimmtem Auftreten, das sie sich selbst nicht zutrauen. (Vater: „Dein Freund hat richtig Eier!“, Mutter: „Der ist Student an der Hochschule, der lässt sich nichts sagen!“, Schwester: „Anders als mein Bruder!“). Min-huyk betritt die Wohnung durch den hinteren Eingang. Ki-woos gebückter, devoter Haltung sieht man an, dass er sich wegen der bescheidenen Wohnung schämt. Sein Freund stellt die schwere Kiste aus edlem, dunklem Holz auf den Küchentisch (die Dosen mit dem billigen Bier werden weggeschoben) und sagt: „Dies habe ich dir mitgebracht.“

Die Kamera zeigt in Großaufnahme das goldene Zierschloss der Kiste und die Hände Mins, als er es öffnet. Wieder in Großaufnahme, diesmal von oben, sehen wir dann den Stein in der Kiste. Er ruht auf der Seite auf schwarzem Samt wie ein Edelstein, am Fuß ein geschwungenes, kunstvoll geschnitztes hölzernes Tablett. Er ähnelt stark einem kahlen, steilen und schroffen Gebirgszug mit schrägen Gesteinsschichten, die Farben changierend von grün bis grau-blau mit silbrigen Partien.
Von unten, quasi aus der Sicht des Steins, zeigt die Kamera im low angle shot jetzt Ki-woos Kopf und Oberkörper, wie er sich über die Kiste beugt. Er hat den Kopf zur Seite gelegt, die Brauen zusammengezogen, während er den Stein still und gedankenverloren betrachtet. Die nächste Aufnahme zeigt den Stein auf seinem Tablett in den Händen des Vaters, der mit Frau und Tochter noch am Tisch sitzt. Er ist beeindruckt, betrachtet ihn von allen Seiten und fragt, ob dies ein Landschaftsstein sei oder eine abstrakte Form. Min-huyk bewundert ihn als Kenner und erklärt, dass er aus dem Besitz seines Großvaters stamme, der diese Steine seit seiner Militärzeit sammele und ihm diesen als Geschenk für die Familie Kim mitgegeben habe. Min-huyk gibt dem Stein dann eine besondere Bedeutung: „Dieser Stein ist etwas Besonderes. Er bringt der Familie Wohlstand und gute Prüfungsergebnisse.“
Während dieser Erklärungen zeigt die Kamera in einer eindrücklichen Großaufnahme Ki-woos Gesicht, angeschnitten im Profil auf der linken Seite des Bildes, den Blick auf den Stein vor sich gerichtet. Rechts sieht man die Finger seiner Hände am hölzernen Tablett des Steins, den er auf Augenhöhe hält. Er wird von rechts beleuchtet und wirft einen Schatten auf Ki-woos Gesicht. Zwischen seinem Profil und dem Stein sehen wir unscharf, geisterhaft, im Hintergrund das Gesicht seines Freundes. Mit seinen Worten von der Herkunft und besonderen Bedeutung lenkt er die Aufmerksamkeit seines Freundes auf dessen Wert. Der hebt den Stein noch weiter an, dreht ihn und lässt seinen Blick über die schroffen Hänge und Bergspitzen gleiten, als würde er mit seinen Augen schon diesen zerklüfteten Berg erklimmen. „Wow! Das ist ja wirklich metaphorisch!“ haucht er ehrfurchtsvoll, und Min-huyk lächelt. Der Vater sagt: “Ja, das stimmt, und er kommt genau zur rechten Zeit.“ Er richtet Min-huyks Großvater den Dank der Familie aus. Nur seine Frau lässt sich nicht beindrucken und murmelt skeptisch: „Was zu essen wär‘ mir lieber.“

Die anschließende Szene zeigt uns Ki-woo und seinen Freund in einem Café auf der Gasse. Ki-woo erkundigt sich noch kurz nach der korrekten Bezeichnung des Landschaftssteins, und Min-huyk freut sich, dass er durch das Geschenk seines Großvaters Ki-woos Familie noch einmal getroffen hat. Er trägt dann sein Anliegen vor, Ki-woo seinen Posten als Nachhilfelehrer im Haus der reichen Familie Park zu übertragen. Während seines Studiums in den USA möchte er, dass Ki-woo die Tochter des Hauses unterrichtet, und er traut ihm dieses auch ohne vollendetes Studium zu. Er ist verliebt in dieses Mädchen, möchte sie heiraten und vertraut sie lieber seinem Freund als seinen „besoffenen“ Kommilitonen an.

Deutlich wird: Nicht allen Südkoreaner*innen, vor allem aber auch nicht dem westlichen Publikum ist der gesellschaftliche und symbolische Stellenwert eines Betrachtungssteins bekannt. Er wird in dieser Sequenz anschaulich und dramaturgisch wirkungsvoll eingeführt und mit der Hauptfigur des Films, dem jungen Ki-woo verbunden. Er tritt unvermittelt, als Fremdkörper, in das Leben der Familie Kim, die sozial abgestiegen ist. Sie lebt antriebslos am Rande der Armut, ohne Aussicht auf Verbesserung oder konkrete Pläne für die Zukunft.
Schon die Ankunft des Steins ist verbunden mit der Autorität und dem energischen Auftreten des wohlhabenden Freundes von Ki-woo gegenüber dem Betrunkenen. Der Student stammt aus einer Familie, zu deren Tradition und Stand das Sammeln der Steine gehört. Die ehrfürchtige Bewunderung der Familie Kim und der Dank an den Großvater Min-huyks zeigt, dass sie sich durch dieses Geschenk respektiert, geehrt und höher eingeschätzt fühlen, als es ihren Lebensumständen entspricht.
Es ist jedoch vor allem für Ki-woo gedacht, der offensichtlich unvertraut mit diesem traditionellen Gegenstand der Verehrung ist. Die Kamera zeigt deutlich und unmissverständlich die Wirkung auf diesen jungen, naiven und eher ängstlichen jungen Mann. Die effektvolle Öffnung der edlen Schatulle wie die einer Schatzkiste, die Präsentation auf Samt und geschnitztem Tablett machen ihn sprachlos wie vor einem Heiligtum. Mit seinen Augen erwandert er dieses Kunstwerk der Natur, dieses Abbild eines erhabenen Berges, so wie es seine Vorfahren getan haben und wie es die Betrachter und Sammler auch heute noch tun.
Gleichzeitig aber wird der Landschaftsstein von seinem Freund mit symbolischer Bedeutung aufgeladen. Er bezeichnet ihn als Glücksbringer, der der Familie Wohlstand und gute Prüfungsergebnisse bringen soll. So stellt er eine besondere Beziehung zwischen Ki-woo und dem Stein her, die dieser gleich als metaphorisch deutet.
Im anschließenden Gespräch zwischen Min-huyk und Ki-woo wird deutlich, dass dieser mit dem Geschenk des Steins und der willkürlichen Zuweisung einer speziell auf ihn und die Familie zugeschnittenen symbolischen Bedeutung eine besondere Absicht verfolgt. Kim-woo soll seine Stelle als Nachhilfelehrer für seine angebetete Freundin in einer reichen Familie übernehmen. Das Geschenk des Steins erscheint so als ein Appell an seine Freundschaft und Ehrenhaftigkeit. Er will ihn verpflichten, die Tochter der Familie Park bis zu seiner Rückkehr und geplanten Hochzeit zu betreuen und beschützen.

3. Zusammenfassende Darstellung der Rolle des Steins in den Kapiteln 2, 6 und 12

Kapitel 2 – „Neuer Job“ (0:11:07 – 0:11:38)
Ki-woo hat eingewilligt, sich um die Stelle bei den Parks zu bewerben. Mit neuer Frisur und in dunklem Anzug, versorgt mit von der Schwester kunstvoll gefälschten Universitätszeugnissen, geht er über die steile Treppe aus der Wohnung hinaus. Die Zeugnisse seien nur ein Vorgriff auf das Studium, das er bald anfangen werde, sagt er zu seinen Eltern. Seine gebückte Haltung ist einem aufrechten Gang gewichen. Der Vater bewundert ihn für seinen Plan und wünscht ihm Glück. Man sieht, wie die Mutter im Hof sorgfältig den Stein unter fließendem Wasser reinigt.

Kapitel 6 – „Gleicher Geruch“ (00:49:59 – 00:51:45)
Ki-woo hat die Naivität und Großzügigkeit der reichen Familie ausgenützt und es geschafft, seiner ganzen Familie eine Stellung bei den Parks zu verschaffen. Durch teils bösartige Tricks und Intrigen gelingt es ihnen, dass dem bisherigen Personal gekündigt wird. Dabei verbergen sie kunstvoll ihre gemeinsame Identität als Familie, nur dem kleinen Sohn der Parks fällt auf, dass allen der gleiche Geruch anhaftet. In ihrer Wohnung, am Küchentisch, diskutieren die Kims die Gefahr, dass ihre Täuschung aufgedeckt wird. Vater Kim lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und stößt mit ihnen auf die guten Jobs der Familie und die Großzügigkeit der Parks an. Als er sagt „Andere würden sich glücklich schätzen, wenn sie die Probleme hätten“ richtet sich die Kamera auf den Stein zwischen Vater und Sohn. Er steht hinter ihnen auf seiner Holzkiste. Der Trinkspruch auf Herrn Park und Min-huyk bleibt dem Vater im Hals stecken, als er schon wieder einen Betrunkenen vor dem Fenster sieht. Dieses Mal springt Ki-woo empört auf: „Du bist tot, Arschloch, ich bring dich um!“ Die Kamera zeigt in Großaufnahme, wie er sich den Stein greift. Er läuft damit los, doch die Eltern halten ihn davon ab, ihn als Waffe zu benutzen. „Nun übertreib mal nicht!“ Draußen entwickelt sich eine fröhliche Wasserschlacht.
In diesen beiden Szenen wird gezeigt, wie der Stein einen Ehrenplatz in der Wohnung der Kims erhält. Die zugeschriebene Bedeutung dieses Geschenks und das Vertrauen des Freundes treiben Ki-woo an, sich selbst und seiner ganzen Familie ein gutes Einkommen und vielleicht die Möglichkeit des Aufstiegs zu verschaffen. Er legt seine Devotheit und Ängstlichkeit ab, entwickelt Selbstvertrauen und dann auch einen Plan für die Zukunft seiner Familie, für die er sich verantwortlich fühlt. Mit seiner Plan- und Antriebslosigkeit ist sein Vater dazu nicht in der Lage.
Die gute Absicht ist jedoch von Anfang an begleitet von betrügerischer Energie, in der er von seiner cleveren Schwester und den Eltern unterstützt wird. Von Ehrenhaftigkeit kann keine Rede sein. Das Hauspersonal wird durch Tricks desavouiert und dann entlassen, sodass seine Eltern ihren Platz als Chauffeur und Haushälterin einnehmen können. Auch lässt er es zu, dass die Tochter der Parks sich in ihn verliebt - ein Vertrauensbruch gegenüber seinem Freund. Als sein neu erworbener Stolz auf die Familie und sein Heim durch den Betrunkenen verletzt wird, sieht er in diesem Augenblick den Stein nicht mehr als verehrungswürdiges Heiligtum, sondern will ihn ganz spontan und voller Wut als grobe Waffe, oder zumindest als Drohung benutzen.

Kapitel 12 – „Sintflut“ (1:33:05 – 1:33:40)
War die Familie Kim im Kapitel 6 noch auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs, so tritt der Stein erst wieder auf, als sich das Schicksal gegen sie gewendet hat. In Abwesenheit der Familie Park feiern die Kims zusammen ein fröhliches Gelage in deren Haus. Da taucht die ehemalige Haushälterin Moon-gwang wieder auf, und es stellt sich heraus, dass sie ihren Mann, Geun-se, im geheimen Keller des Hauses vor Schuldeneintreibern versteckt und bisher dort versorgt hat. Dieses Ehepaar stellt jetzt eine Bedrohung für die Position der Kims im Haus der Parks da, da sie fürchten, dass ihr Betrug aufgedeckt wird. Im Streit stößt Frau Kim Moon-gwang die Kellertreppe herunter und diese bleibt, schwer am Kopf verletzt, dort liegen. Ihr Mann wird gefesselt, der Keller verschlossen. Als die Parks wegen eines Unwetters unerwartet früh von ihrem Ausflug zurückkehren, flüchten Herr Kim und seine Kinder aus dem Haus. Die Tochter sorgt sich um das Schicksal des Ehepaares im Keller, doch der Vater beruhigt sie und verspricht, er habe schon einen Plan im Kopf.
Der sintflutartige Regen hat das Viertel der Kims überschwemmt und ihre Wohnung steht unter Wasser. In einer dramatischen Parallelaufnahme aus der überfluteten Wohnung der Kims und dem geheimen Keller der Parks wird gezeigt, wie die Kims im steigenden Wasser ihre Habseligkeiten zusammensuchen, während die in ihrem Blut liegende, sterbende Moon-gwang ihrem Mann den Namen ihrer Mörderin einprägt. Wir haben ihre Worte noch im Ohr, als Ki-woo den Stein in der Wohnung entdeckt. Er taucht langsam aus dem schmutzigen Wasser auf. In Großaufnahme sieht man seine Hände, die ihn umfassen und aus dem Wasser heben. Er betrachtet ihn lange und versonnen, schon bis zu den Hüften im Wasser. Der Vater ruft ihn besorgt.

4. Analyse und Interpretation der Sequenz 1:34:50 – 1:37:20 In der Notunterkunft

Ki-woo klammert sich an den Stein, der ihn als Glücksbringer dazu motiviert hat, für sich und seine Familie ein besseres Leben und den Aufstieg in der Gesellschaft zu erringen. Er hat ihn aus den schmutzigen Fluten ihrer überschwemmten Wohnung gerettet. Durch die Parallelaufnahme der sterbenden Frau im Keller der Parks, die Rache fordert, deutet der Film an, welche Gedanken Ki-woo durch den Kopf gehen könnten. Schon einmal wollte er den Stein als Waffe benutzen.

Die Sequenz beginnt mit einer Totalaufnahme von schräg oben auf schlafende Menschen in einer nächtlichen, nur schwach beleuchteten Notunterkunft in einer großen Turnhalle. Es sind fast keine Geräusche zu hören. Ohne Übergang zeigt das nächste Bild in seitlicher Nahaufnahme Herrn Kim ganz vorne, in der Mitte Ki-woo und dahinter, rechts neben ihm, seine Schwester. Sie schlafen eng beieinander auf einem Matratzenlager, umgeben von vielen anderen Menschen, deren Wohnung überflutet wurde. Das schwache Licht entzieht dem Bild fast jede Farbe. Ki-woo wird wach, blickt kurz nach rechts zu seiner schlafenden Schwester und dreht sich dann auf die linke Seite zu seinem Vater. Es entwickelt sich ein sehr leiser, fast geflüsterter Dialog. Im Gespräch sucht er Hilfe von seinem Vater, doch dieser hat keinerlei Verständnis für die Sorgen seines Sohnes und hält sie für ein Hirngespinst. Des Vaters Planlosigkeit, sein Fatalismus und seine Gewissenlosigkeit lassen Ki-woo verzweifeln. Er ist auf sich allein gestellt. Eine katastrophale Wendung ist eingetreten, verstärkt vom vernichtenden Unwetter, und er sieht seine Familie in Gefahr. Er fühlt sich verantwortlich, sieht sich selbst als Verursacher des Unglücks und verspricht, das wieder in Ordnung zu bringen.
Die Sequenz schafft eine alptraumhafte Atmosphäre durch das schwache Licht, die gedämpften Stimmen, die sphärischen Klänge im Off und die eindrücklichen Nahaufnahmen von Vater und Sohn. Der horizontal gedrehte, extreme high angle shot des liegenden Ki-woo und seiner körperlichen Verschmelzung mit dem Stein zeigen den Verlust seines inneren Gleichgewichts, seine Nähe zum Wahn. Der Stein hat jetzt ein Eigenleben, hat von ihm Besitz ergriffen, verfolgt ihn.

5. Der Stein am Ende des Films

Im Kapitel 13 – „Geburtstagsparty“ (1:44:47 – 1:47:30) sehen wir, wie er den Stein als Waffe benutzen möchte, um die Bewohner des Kellers auszuschalten und seine Familie zu retten. Doch ist er viel zu ängstlich und ungeschickt, verliert ihn und wird dann selbst damit halb totgeschlagen. So rächt sich Geun-se für den Tod seiner Frau.
Kapitel 15 – „Der Brief“ (1:59:24 – 2:01:44)
Nach einer langen Genesungszeit legt er den Stein in ein fließendes, klares Gewässer zurück, zu anderem, ähnlichem Gestein. Dies ist das erste Bild eines Traums, in dem er sich vorstellt, wie er seinen Vater aus dem Keller des Hauses der Parks befreien kann. Dort hat dieser sich nach dem Mord an Herrn Park vor der Polizei versteckt. Aus dem Off hören wir Ki-woos Stimme mit dem Text eines Briefes an seinen Vater, der mit den Worten beginnt: „Vater, ich habe einen Plan gefasst, einen fundamentalen Plan.“

6. Fazit

Zu Beginn wurde der Landschaftsstein als Teil der kulturellen Tradition Südkoreas dargestellt. Als reines Produkt der Natur kann er Gegenstand der Betrachtung und Meditation sein, aber es können ihm auch symbolische Bedeutungen zugeschrieben werden. Gleichzeitig ist sein Besitz ein Zeichen für die Zugehörigkeit zu einer gehobenen Gesellschaftsschicht.
Diese Eigenschaften machen ihn für den jungen Ki-woo zur motivierenden Antriebskraft für den Versuch eines sozialen Aufstiegs. Im Unterschied zu seinen Eltern, die dem geschenkten Stein einen Ehrenplatz zuweisen, ist ihm der traditionelle Hintergrund unbekannt. Dennoch ist er fasziniert von diesem Kunstwerk der Natur, das jedoch schon bei seinem ersten Auftritt einen Schatten auf ihn wirft. Die moralischen Qualitäten, die ihm in Philosophie und Religion zugeschrieben werden, sind für ihn kein Begriff. Die willkürliche, vom Freund auch eigennützige Zuweisung der metaphorischen Bedeutung als Bringer von Wohlstand und guten Prüfungsergebnissen ist alles andere als tugendhaft. Sie entspricht in keiner Weise der Tradition und dient der Manipulation Ki-woos, im Interesse Mins zu handeln. Von Anfang an ist Ki-woos Motivation für den sozialen Aufstieg begleitet von betrügerischen Abkürzungen auf Kosten anderer Menschen. Als Sohn fühlt er sich vor allem verantwortlich für seine Familie. Als sein neu gewonnener Stolz auf sie durch das Benehmen des Betrunkenen gekränkt wird, wandelt sich der Stein vom metaphorischen Antrieb zur primitiven Waffe, von der inneren Stärkung zur Verstärkung seiner physischen Kraft. Er wird ein Stein wie jeder andere, der zum Instrument der Zerstörung werden kann. Zugrunde liegt die Schwäche Ki-woos und seiner Familie. Ihre Antriebskraft und ihr Durchhaltevermögen reichen nicht aus, um mit legalen Mitteln die unüberwindlichen Schwierigkeiten beim sozialen Aufstieg zu überwinden. Die Tricks, die sie einsetzen, täuschen Stärke nur vor und gehen auf Kosten unschuldiger Menschen.
Das sintflutartige Unwetter, das ihre Wohnung überschwemmt, erscheint wie die Bestrafung dieser Sünden. Aus der schmutzigen Flut taucht der Stein wieder auf und heftet sich an Ki-woo, wie die Sequenz in der Notunterkunft zeigt. Seine Anziehungskraft, seine obsessiven Qualitäten werden deutlich. Der Stein muss ihm weiterhelfen.
Im Gespräch mit seinem Vater wird ihm klar, dass er mit seinen intriganten Plänen für den Aufstieg zu weit gegangen ist. Er muss noch größere Schuld auf sich nehmen, um seine Familie zu retten. Die Umklammerung des Steins, den er als Waffe einsetzen will, ist ein Zeichen seines Leids, seiner Überforderung, die ihn an den Rand des Wahnsinns treibt. Er ist jetzt zur Last für ihn geworden, zur Bürde, die er aber auf sich nimmt, da er in seinem Vater keine Hilfe findet.
Man sieht seine Angst und seine moralischen Skrupel, als er den Stein dann tatsächlich als Mordwaffe im Keller der Parks einsetzen will. Er verliert ihn an Guen-se, den Rächer seiner Frau, deren Tod Ki-woo auf dem Gewissen hat und der ihn jetzt damit fast erschlägt. Am Ende, nach langer Genesungszeit, gibt er den Stein der Natur zurück. Im klaren Wasser eines Baches wird er symbolisch von aller menschlichen Schuld gereinigt. Ki-woo jedoch verfolgt auch weiterhin seinen Traum vom Aufstieg ohne Mühe und vom Leben seiner Familie im Wohlstand.

Der Stein zieht sich schon allein durch seine Massivität und hervorgehobene Präsentation als deutlichstes Motiv durch den Film. Er bildet auch einen optischen Ruhepol und einen attraktiven Gegensatz zur chaotischen, von westlichen Produkten überschwemmten Welt der Familie Kim. Dazu ist er eng verbunden mit dem Motiv des Plans. Er erhebt den Sohn aus der schicksalsergebenen Planlosigkeit des Vaters, treibt seine Aufstiegspläne an und dient ihm dann in seiner Verzweiflung als Waffe zu deren Durchsetzung.
Um die unüberwindbaren Gesellschaftsschranken der südkoreanischen Konsumwelt zu durchbrechen, helfen jedoch weder die kulturelle Tradition des Steins noch die willkürliche Zuschreibung von symbolischer Bedeutung noch seine Eigenschaft als Waffe, die sich schließlich gegen den Nutzer wendet. So verstärkt dieses Motiv noch den Eindruck der Vergeblichkeit aller Anstrengungen.

1)
Misaki Imagawa: Appreciating Gongshi: Part One - Early Standards and Scholar’s Rocks. In: beprimitive.com The Wisdom of Rocks: Gongshi. In: theschooloflife.com Willis, Eve (17.2.2020): Built on rock: the geology at the heart of Oscars sensation Parasite. In: theguardian.com
2)
Der Regisseur erlaubt sich hier einen Scherz: Diese billige, 2007 auf den Markt gekommene südkoreanische Dosenbier trägt den gleichen Namen wie das 500 Millionen Jahre alte Gestein (Filite oder Phylitt) aus dem der Betrachtungsstein besteht
der_gelehrtenstein_als_motiv_fuer_die_figur_des_jungen_kim_ki-woo_im_film_parasite_von_bong_joon-ho_brigitte_anthes-kettler.txt · Zuletzt geändert: 2021/08/30 17:00 von admin