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DER GERUCH DER ARMUT IN „PARASITE“ VON BONG JOON-HO (Bernd Heinen)

Bon Joon-Ho

Es ist ein unbequemer Übernachtungsplatz, den sich die Familie Kim ausgesucht hat. Stundenlang liegt sie nach der überraschenden Rückkehr der Familie Park von einem gescheiterten Campingurlaub versteckt unter den feudalen Tischen und Sofas. Sie hat die Abwesenheit der reichen Parks ausgiebig mit viel Essen und Alkohol gefeiert, jetzt müssen sie gar den ehelichen Sex von Frau und Herrn Park oben auf dem Sofa miterleben.

Es ist eine klassische Suspense-Szene aus dem Lehrbuch von „Mr. Hitchcock: wie haben Sie das gemacht?“. Sie erinnert an den Polizisten Park, der in „Memories of Murder“ (2003) längere Zeit in einem Wasserbecken liegt auf der Suche nach einem Mann ohne Körperbehaarung oder an „Mother“ (2009), in dem die Mutter in die Baracke des mutmaßlichen, schlafenden Mörders eindringt und im Dunkeln eine Wasserflasche umwirft, deren Inhalt sich unerbittlich immer näher den Fingerspitzen des Schlafenden nähert, was ihr sicheres Todesurteil wäre. Diese beiden Bong Joon-Ho-Filme waren in Südkorea große Publikumserfolge.

Viele der in seiner Heimat gedrehten Werke von Bong Joon-Ho sind ungemein genaue Querschnitte der gesellschaftlichen Situation, in der sie entstanden sind. In den genannten Filmen ist das Land im Umbruch, steht nach langer Militärdiktatur am Übergang zur Demokratie, während der kapitalistische Aufschwung in diesen frühen Werken schon spürbar ist. Die neuen politischen Formen werden erprobt, aber Reste der Diktatur wirken weiter. „Parasite“ (2019) ist nach zehn Jahren Dreh im Ausland wieder eine Produktion in seiner Heimat. Der Kapitalismus hat jetzt das Land voll erfasst, die gesellschaftliche Ungleichheit ist extrem und entwickelt sich immer weiter. Reiche und Arme leben in getrennten Welten. Aber beide Klassen begegnen sich in diesem Film.

Denn die Reichen sind nicht in der Lage ihren Alltag ohne die Hilfe der Armen zu bewältigen. Daher gelingt es der Familie Kim Schritt für Schritt in deren Leben einzudringen. Bong Joon-Ho schildert seine Geschichte in einem wilden Genre-Mix aus Satire, Horror, Farce, Thriller und Gesellschaftskritik. Sein Film lebt vom unaufhörlichen Wechsel der Perspektiven, von Blicken, die sich gegenseitig auseinandernehmen und aufheben – und von Gerüchen. Wie die Konfrontation der Klassen sich in „Parasite“ vollzieht, davon handelt diese Filmanalyse.

Die arme Familie Kim dringt nach und nach in das Leben der reichen Parks ein, aber sie behalten den Geruch ihrer Armut. Dieser bei allen Vieren gleiche Geruch von Kleidung und Körper entlarvt sie als parasitäre Eindringlinge. Nicht Kleidung, Benehmen oder fehlende Bildung wird zum Risikofaktor für ihre Enttarnung, sondern ihr Geruch. „Es ist wie der Geruch eines verdreckten Lappens, den man mit heißem Wasser auskocht“, so der Geschäftsmann Park, der die Familie Kim buchstäblich wittert. Er riecht dies auf dem Rücksitz seiner Luxuslimousine und fürchtet, seine teuren Anzüge könnten den Geruch annehmen. Aber die Scharlatane sind schon fest in seine Familie eingedrungen, sie sind gärende Produktivkräfte einer Gesellschaft und bringen die latenten gesellschaftlichen Widersprüche zur Explosion.

Lässt sich durch die Nase die soziale Herkunft erschnuppern?

Ich möchte einige Szenen, in denen der Geruch zentral ist, kurz beschreiben:

3:10

Die Familie Kim sucht in ihrer Wohnung mit gezückten Handys nach kostenlosem WLan, da die Bewohner*innen über ihnen jetzt ein Zugangspassword einsetzen und sie damit von der schmarotzenden Mitnutzung ausschließen. Wir sehen die an einem kleinen Wäschetrockner, der an der Decke angebracht ist, aufgehängten Strümpfe und eine Toilette, die offen am Flurende der Wohnung liegt und über eine kleine Treppe erreicht wir). Die Kims wohnen in einer heruntergekommenen Souterrainwohnung. Sie sehen die Welt von unten. Die Kamera fährt langsam von der Decke nach unten, wir blicken durch eine vergitterte und verdreckte Fensterscheibe auf eine kleinere Straße. Vor dem Fenster urinieren häufig Betrunkene. Schon in dieser Szene liegt verdichtet die ganze Geschichte. Es gibt kleinere Läden, Müllhaufen, ein Moped fährt vorbei. Die Straße wird desinfiziert. „Lasst die Fenster auf, wir können eine Desinfektion gebrauchen. Dann sind die Stinkwanzen weg“, sagt Herr Kim). Der brutale Desinfektionsgeruch mit seinem extrem stinkenden, sich in der Wohnung ausbreitendem Qualm; die Toilette, die wie ein Altar knapp unter der Decke steht; die muffelnden Strümpfe, die zu faltenden Pizzaschachteln – daraus setzt sich der Familiengeruch zusammen, dem die Kims nicht entgehen können. Sie leben in einem stinkenden Drecksloch. Alle Versuche aus ihrer im Wortsinn unterprivilegierten Lage herauszukommen, werden scheitern.

49:30

Im Haus der Familie Park macht ihr kleiner Sohn Da-song eine Entdeckung. Als er neben Herrn Kim steht, riecht er an dessen Anzug und läuft dann hinüber zu Frau Kim, die an einer größeren Kühlbox im Bildhintergrund sich befindet, und schnuppert an ihr. „Sie riechen beide total gleich“ stellt er fest. „Da-song, was fällt dir ein. Geh zurück in dein Zimmer zum Unterricht“, befiehlt Frau Park ihrem Sohn. Der ruft aber „Auch Frau Jessica riecht genauso“. Seine Eltern maßregeln aber nur seine Unhöflichkeit und schicken ihn zum Unterricht in sein Zimmer zurück. Sie vertrauen dem Geruchssinn ihres Sohnes nicht, die parasitäre Unterwanderung bleibt unentdeckt. Die Kims aber spüren langsam die Gefahr ihrer Entlarvung. Der kleine Park-Sohn deutet den Kims an, das ihr perfektes Einschleichen in den Haushalt und das Leben der Parks erfolgreich war, jedoch bald beendet sein könnte.

In der darauffolgenden Szene überlegen sie in ihrer Souterrain-Wohnung, wie sie weiter vorgehen können. Sie denken daran, unterschiedliche Seifen zum Waschen zu benutzen oder jede Kleidung mit verschiedenen Waschmitteln zu reinigen. „Das hilft alles nichts“, meint die clevere Tochter Ki-iung, „es ist der Kellermief, der uns anhaftet. Wir müssen die Wohnung verlassen, um nicht mehr aufzufallen“. Herr Kim kleistert – wie es seine Art ist - alle Widersprüche zu: „Wir können doch froh sein, alle am gleichen Ort zu arbeiten. In einer Lage, wo sich für eine Stelle im Wachdienst, 500 Hochschulabsolventen bewerben, sind wir in einer glücklichen Situation. Wenn wir alle vier Gehälter zusammenlegen, fließt eine enorme Geldsumme in unsere Taschen“. Er erhebt die Büchse Billigbier und dankt dem wunderbaren Herrn Park von Herzen. Was für ihn einen „Plan“ darstellt (einfach so weiter machen), ist für seine Familie ein direkter Weg in die Katastrophe. Der Geruch wird in dieser Szenenfolge als stigmatisierendes Element der armen Unterschicht gesehen. Erst wenn es ihnen gelängen würde, die Armut zu verlassen, hätten sie in der gesellschaftlichen Hierarchie eine Chance. Ihr Gegenüber, die reiche Familie, ist nicht in der Lage, Armut zu spüren, zu denken und zu erkennen.

1:23:44

Nach der überraschend schnellen Rückkehr vom gescheiterten Geburtstags-Camping-Wochenende will Da-Song die Nacht trotz starken Regens im Indianerzelt im Garten verbringen. Die Kims, Vater und seine beiden Kinder, liegen unter dem riesigen Couchtisch, wohin sie sich bei der Rückkehr gerade noch flüchten konnten. Unten und oben ist auch hier, wenn auch in unmittelbarer Nähe, strikt getrennt. Sie verhalten sich still und müssen der Unterhaltung und den Sexspielen der Eltern Park beiwohnen. Herr Park hat dabei einen speziellen „Arme-Leute-Geruch“ wahrgenommen, der ihn an alten Rettich, an einen ausgewaschenen Putzlappen und an die Passagiere in der U-Bahn, aber auch an seinen Chauffeur im Auto erinnert. Dieser aber, so Herr Park, überschreite aber nur in diesem Punkt seine Grenzen, auch wenn es sicher eine Grenzverletzung darstelle, wenn er den Geruch sogar auf dem Rücksitz wahrnehme. Da der im Auto entdeckte Slip und die ungewohnten Gerüche die Parks zum Sex animieren, müssen die Kims unter dem Tisch die verbale Diskriminierung der Unterschicht und das Liebesspiel der Oberschicht direkt und in völliger Passivität miterleben.

1:49:58

Die Parks entscheiden sich nach dem gescheiterten Campingausflug den Geburtstag ihres Sohnes doch noch mit einer großen Gartenparty und ihren reichen Freunden zu feiern. Die Kims werden für die Vorbereitung der Festivitäten zum Anwesen beordert. Alle zentralen Motive des Films kulminieren in diesen Partyszenen: die Treppen, aus denen die Parasiten nach oben steigen, der Geruch, der stigmatisiert und diskriminiert, das sinnentleerte Feiern der Oberschicht und der Horror, der die dramatische Auflösung der Geschichte einleitet.

Der blutverschmierte Ehemann der getöteten Haushälterin Geun-se steigt die Kellertreppe empor, um den Tod seiner Frau zu rächen. Er trifft auf ein zwangloses, fröhliches Gartenfest. Beide männlichen Familienoberhäupter haben sich als Indianer kostümiert. Der Horror kommt nun zu den feiernden Reichen: nachdem er noch eine Torte ins Gesicht bekommen hat, ersticht Geun-se zunächst die Kim-Tochter Ki-Jung mit einem Messer, die blutend in die Arme ihres Vaters stürzt. Mutter Kim schafft es zwar, den Angreifer mit einem Fleischspieß zur Strecke zu bringen, jedoch ist das Schicksal ihrer Tochter besiegelt: sie liegt im Sterben. Da Herr Kim immer noch versucht, die Wunden seiner toten Tochter zu heilen, muss Herr Park angewidert und mit zugehaltener Nase die Schlüssel selbst unter Geun-se hervorziehen. Als Park aber den toten Körper umdreht, nimmt er dessen Geruch auf und hält sich vor Ekel die Nase zu. Kim und Park sehen sich wenige Sekunden an. Die Erniedrigungen durch den reichen Mann haben beim armen Kim das Fass zum Überlaufen gebracht. Er hat sich lange genug anhören müssen, dass Arme stinken. Als Park mit dem Schlüssel davonläuft und er sich kurz umdreht, ersticht Kim den Geschäftsmann mitten ins Herz.

Wer arm und machtlos ist, wird es bleiben: das Kino von Bong Joon-Ho

Ein Slapstick hat diese Szenenfolge eingeleitet: Ki-Jung schlägt dem heranstürzenden Mörder die Geburtstagstorte ins Gesicht (bekannter Komödien Slapstick), kann ihn aber nicht aufhalten.

Das Kino des Bong Joon-Ho lässt sich mit ideologiekritischem, soziologischem Inventar nicht wirklich erfassen, sondern ein Teilsegment von „Parasite“, der Geruch, setzt neben zahlreichen anderen Bereichen (Architektur, Treppen, Familienstrukturen, Weisheitssymbolen wie dem Stein etc.) einen vielgestaltigen „Teppich“ von Bedeutungen frei, die eine rein filmische Ästhetik begründen. Dieser Film und sein Regisseur bebildern nicht eine Geschichte, einen Text, ein Drehbuch – Bong Joon-Ho liefert hier ein weiteres Beispiel seiner genuin kinematographischen Kunst. Nach einigen anfänglichen Szenen sind die Zuschauer direkt ein Teil des Films, seiner Phantastik und seines Ideenreichtums.

Der soziale Aufstieg der Unterprivilegierten, der Kims, bleibt eine Illusion, eine schöne, clevere, scheiternde Idee. Sie sind chancenlos.

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