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Die andere Seite der Hoffnung

Zu Struktur und Erzählweise des Films

Einleitung

Das Thema Flucht bearbeitet Kaurismäki bereits in seinem Film ‘Le Havre‘ (2011). Dort erzählt er die Geschichte eines afrikanischen Jungen, dem es mit seiner ungeheuren Zielstrebigkeit und der Unterstützung freundlicher Menschen gelingt, nach England zu gelangen. In beiden Filmen spielen die Themen Solidarität und Menschlichkeit eine zentrale Rolle. Der Hintergrund der Erzählungen wird bestimmt durch die sogenannte Flüchtlingskrise in Europa, die von einer Stimmung der Abschottung gegen die Flüchtlinge und der Abwehr der ‘Eindringlinge‘ bestimmt wird. „Ich habe den Film in Finnland gemacht, weil es mein Land ist. Aber gemeint ist ganz Europa. Wenn wir nicht zu unserer Menschlichkeit zurückfinden, falls wir eine solche jemals hatten, dann haben wir keine Zukunft mehr“, sagte Kaurismäki in einem Interview mit dem italienischsprachigen Fernsehen in der Schweiz (RSI, 30.03.17). Er klagt die Menschlichkeit ein, die den Bürgern abhandengekommen sei, ohne die es keine Zukunft für ein gutes Miteinander - Leben gebe.

Der Text versucht, die allgemeine These von Kaurismäkis minimalistischem Stil für den Bereich der Narration zu überprüfen und untersucht diese exemplarisch an den Eingangsszenen und der Gewaltentwicklung im Film, die sich in drei Szenen steigert.

Inhalt

Der Film erzählt die Geschichte eines syrischen Flüchtlings, der als blinder Passagier auf einem Kohlecontainer eher zufällig in Finnland landet und dort um Asyl bittet. Er durchläuft, auf korrekte Weise durch den Behördenapparat geschoben, sein Asylverfahren und wird trotz deutlich vorhandener Bedrohung in Syrien abgelehnt. Seiner Abschiebung kann er mit Hilfe einer Sozialarbeiterin entkommen und untertauchen.

Die weitere Erzählung handelt nun von Erfahrungen, die Khalid als untergetauchter Flüchtling in der Stadt macht. Er hungert, hat kein Dach über dem Kopf, begegnet freundlichen Menschen, die ihm in seiner Not helfen und bedrohlichen rechten Nazi – Glatzköpfen, die ihn angreifen. Er kann mit der Unterstützung des Restaurantbesitzers Waldemar, der ihn völlig verhungert und verdreckt hinter seinen Mülltonnen findet und ihn aufnimmt, überleben. Waldemar gibt ihm Arbeit und eine Unterkunft für die Nacht, versorgt ihn mit falschen Papieren und hilft ihm, seine Schwester ins Land zu schmuggeln. Khalid wurde auf der Flucht von ihr getrennt und sucht verzweifelt, sie über die Netzwerke aller Flüchtlinge, die er kennt ausfindig zu machen. Es gelingt und sie kann nach ihrer Ankunft einen Asylantrag stellen.

Statt aber mit ihr ein neues Leben in Finnland beginnen zu können, wird er von einem der Nazi – Glatzen niedergestochen, die ihn schon während der gesamten Filmgeschichte hindurch verfolgen. Der Schluss bleibt offen und es ist unklar, ob Khalid den Mordanschlag überlebt.

Dennoch ist der Film getragen von einer hoffnungsvollen, menschenfreundlichen Atmosphäre, die gerade bei denen entwickelt wird, die am Rande der bürgerlichen Gesellschaft leben und deren Regeln nicht immer respektieren; z. B. Waldemar mit seinem von Pokergeld erworbenen, seltsam abgewracktem Retro – Restaurant; sein skurriles Restaurantpersonal, das allen Restaurantregeln zum Trotz ein unsägliches Speiseangebot führt und den Laden in den weiteren Ruin treibt; die Obdachlosen, die Khalid aus den Händen der aggressiven Rassisten retten und die Sozialarbeiterin, die ihm zur Flucht vor der Abschiebung verhilft.

Trotz des traurigen Milieus und des Flüchtlingselends ist ‘Die andere Seite der Hoffnung‘ eine Hoffnungsgeschichte. Sie lebt von der Zuwendung und gegenseitigen Unterstützung derer, die am Rande der bürgerlichen Gesellschaft leben. Das finnische Gesellschaftssystem - hier exemplarisch für andere Länder Europas - bietet geordnet korrekte Asylverfahren und schiebt dann den Flüchtling trotz schrecklicher Fluchterfahrung und Bedrohung durch Krieg mit dem Hinweis ab, es gebe noch sichere Ecken in seinem Land, in die er zurückkehren könne.

Zur Struktur und Erzählweise

Der Film entwickelt seine Geschichte über einen langen Zeitraum zunächst in zwei unabhängigen Handlungssträngen, die jeweils einem der Hauptprotagonisten zugeordnet sind. Beide Stränge werden bei der ersten bewussten Begegnung von Waldemar und Khalid zusammengeführt, als sie bei den Mülltonnen hinter Waldemars Restaurant aufeinandertreffen. Bis zu diesem Punkt werden beide Geschichten getrennt erzählt, ohne dass der Zuschauer einen Zusammenhang zwischen beiden erkennen könnte. Allerdings gibt es eine kurze Begegnung an einem Zebrastreifen, wo Waldemar den Flüchtling Khalid beinahe anfährt und die beiden einander durch Autoscheibe getrennt für einen Augenblick anschauen.

Der Moment ist als eigene kleine Szene inszeniert und wirkt wie ein kurzes Spannungsmoment, von dem der Zuschauer ahnt, dass die Begegnung etwas zu bedeuten hat.

Die beiden Stränge erzählen unabhängig voneinander zwei Fluchtgeschichten einsamer Männer; die von Khalid, dem Flüchtling, der als blinder Passagier aus einem Kohlecontainer gekrochen ist und schon eine schreckliche Flucht hinter sich hat, und die von Waldemar, der heimatlos geworden. Er hat sich von seiner alkoholkranken Frau und der wortlosen Ehe und von seinem Beruf als Vertreter für Herrenhemden getrennt. Mit dem Versuch, ein Restaurant zu übernehmen, will er ein neues Leben wagen. Khalid geht es ebenso. Auf dem Weg in die Zukunft sucht er seine Schwester, von der er auf der Flucht getrennt wurde.

Beide Protagonisten sind auf ihrem Weg einsam, in trostlosen Umständen; Waldemar in einem heruntergekommenen Lokal mit unfähigem Personal und fehlenden Gästen und Khalid in einer kalten unpersönlichen Unterkunft, in einem Schlafsaal voller trauriger Flüchtlingsgestalten. Und dennoch herrscht hier eine stumme Solidarität, die sich in wortlosen Gesten der Zuwendung äußert; die letzte Zigarette, die weitergegeben wird, die Hand, die wortlos Feuer reicht, das Handy, das zur Verfügung gestellt wird und damit die Unterstützung bei der Suche nach der Schwester.

In beiden Erzählsträngen zeigt sich Kaurismäkis „Ästhetik der Kargheit“1) in der stummen Aneinanderreihung der Bilder, die die Geschichte erzählen. Die Szene, in der sich Waldemar wortlos von seiner Frau trennt, ist typisch für diese Art des Erzählens in Bildern. Das Interieur des Wohnraumes, in dem seine Frau mit Lockenwicklern stumm sitzt, raucht und trinkt; die Gestik, mit der er stumm seinen Ehering vom Finger zeiht und auf den Tisch legt, sich umdreht und den Raum verlässt; der Blick, mit dem sie den Ring nimmt und in den Aschenbecher drückt, sagen alles über die Befindlichkeit dieses Paares.

Auch das Elend der Flüchtlinge zeigt Kaurismäki in wortlosen Bildern, die einerseits nüchtern und unsentimental, dennoch eine dichte Atmosphäre entfalten, in der die Trostlosigkeit der Flüchtlingssituation spürbar wird. Und dennoch wirkt sie nicht erdrückend und hoffnungslos, weil immer wieder Menschen mit ihrer Freundlichkeit, die Traurigkeit aufhellen. Es sind die Handlungen der Protagonisten, die den traurigen Geschichten Hoffnungsvorstellungen entgegensetzen. Die Bildfolge und die Schnitte sind dabei Elemente einer elliptischen Erzählweise, die dem Zuschauer Raum gibt, die Erzählung weiterzudenken und mit eigenen Assoziationen und Überlegungen zu ergänzen. Gleichzeitig bieten die Auslassungen Raum, die Gefühle der Akteure nachzuempfinden, die in der sparsamen und oft unbewegten Mimik der Schauspieler kaum offen dargestellt werden. Trotz dieser sparsamer Mimik drücken sich die Gefühle der Figuren in Gesten und Blicken aus und regen den Zuschauer dazu an, in den Räumen, die die aussparende Erzählweise eröffnen, Mitgefühl und Empathie zu entwickeln. Waches Zuschauen führt auf diese Weise zu intensivem Erleben.

Waldemar und Khalid, wie auch die sie umgebenden Figuren leben humane Werte, die einen großen Respekt vor menschlicher Würde zeigen. Sie mögen nicht erfolgreich sein, sogar Looser, denen kaum etwas gelingt, aber sie helfen einander und agieren kreativ und beharrlich auch mit unorthodoxen Mitteln gegen soziale Ungerechtigkeit. Sie haben ihre Gegenspieler, denen sie nicht das Feld überlassen wollen und das zeigt Kaurismäki in einer ruhigen Bildsprache, die trotz ihrer Distanz und Knappheit Emotionen weckt. „Auf (diese) Art minimalistischer Verdichtung veredelt Kaurismäki ein individuelles Schicksal zum allgemeingültigen Exempel“2), ist die Interpretation Ficherts zu Kaurismäkis Erzählstil.

Die Geschichte beider Protagonisten wird linear aber mit Zeitsprüngen erzählt. Nur der Rückblick auf Khaleds Fluchtgeschichte weist auf den für die Erzählung notwendigen Hintergrund für die Ankunft in Finnland und das Suchen nach seiner Schwester hin. Hier hören wir den Protagonisten auch zum ersten und einzigen Mal in zusammenhängenden Sätzen seine Geschichte erzählen. Im Übrigen spielt sich die Geschichte in der Erzählzeit über einen Zeitraum von vermutlich mehreren Wochen oder Monaten ab. Das entspricht dem unspektakulär Erzählstil Kaurismäkis, der zu seinem Konzept des nüchtern kargen Erzählens passt.

Die Zusammenführung der beiden Erzählstränge beginnt mit der Begegnung der beiden Hauptprotagonisten an den Mülltonnen in Waldemars Hinterhof. Sie startet mit einem knappen, wortarmen Dialog, der zur Verblüffung des Zuschauers in massive Handgreiflichkeit übergeht, aus der beide Figuren mit blutenden Nasen hervorgehen. Ein harter Schnitt, und man sieht beide Männer mit deutlichen Blessuren im Gesicht an einem Tisch im Restaurant sitzen, wo Khalid unverhohlen gierig, weil wohl überaus hungrig, eine Suppe löffelt.

Neben dem Überraschungseffekt, der mit der Schlägerei der Handlung eine überraschende Wende gibt, zeigt sich hier auch Kaurismäkis Sinn für Komik und Humor. Entgegen aller Erwartung von Feindseligkeit wird der Zuschauer vom friedlichen Miteinander der beiden Männer überrascht, die beide mit blutstillenden weißen Stöpseln in ihren Nasenlöchern einen recht komischen Anblick bieten. Umringt werden sie vom Restaurantpersonal, das in einer stummen Phalanx eine friedfertig unterstützende Haltung einnimmt.

Solch komische Überraschungselemente tauchen im Film immer wieder auf, heitern die an sich traurige Geschichte auf und machen sie in ihrer Schwere und Ernsthaftigkeit erträglicher. Immer wieder entstehen Überraschungen, die den Zuschauer zum Lachen bewegen. Das gilt besonders für die Szenen im Restaurant, die in kleinen aneinandergereihten Geschichten immer wieder neue Spannungsbögen aufbauen, die durchsetzt sind von komischen Elementen. Das fängt bei der Überprüfung der Gesundheitsbehörden im Restaurant an, bei der sowohl die desolate Hygienesituation des Lokals wie auch der Flüchtling Khalid mit Hund in der Damentoilette versteckt werden müssen, und endet mit den Versuchen dem Restaurant jeweils ein neues thematisches Outfit zu geben, damit es besser läuft. In allen Fällen baut die Erzählweise zunächst Spannung auf, die den Zuschauer in Unruhe versetzt, ob der Protagonist nun in der Damentoilette, o Schreck, entdeckt wird und endet mit der komischen Wende, dass die Damentoilette als Ort respektiert wird, in die ein männlicher Kontrolleur nicht hineingeht, auf diese Weise Khalid und Hund unentdeckt bleiben.

Das Personal wie auch die Gegebenheiten im Restaurant sind wohl eine karikaturenhafte Überzeichnung von Lokalen, die u.U. in ihrer altmodischen Art so noch in Finnland existieren. Hier wird ein solches, ein wenig abgewracktes Lokal zu einem Ort von menschlicher Unterstützung und Solidarität, in dem der Flüchtling Khaled aufgenommen wird und eine verblüffende Sprachfähigkeit und Ironie entwickelt, wenn er erklärt, in der Abgeschlossenheit der Damentoilette den Hund zum Islam bekehrt zu haben.

Ab dem Moment der Begegnung von Khaled und Waldemar bei den Mülltonnen entwickeln sich die bisher getrennten Erzählstränge zu einer gemeinsamen Erzählung. Sie handelt von Solidarität, unkonventionellem Umgang mit Regeln zu Restaurantführung und Personalpapierbeschaffung und dem veritablen Schmuggel von Khalids Schwester über die Grenze. Das ist nur möglich bei einem menschlichen Zusammenhalt, der widerständig gegen Regeln arbeitet, die einem menschenfreundlichen Umgang mit dem Flüchtlingsproblem verhindern.

Ein dritter Erzählstrang entwickelt sich aus der Geschichte mit den Glatzen, denen Khalid schon früh im Ablauf des Geschehens begegnet. Diese Erzählung steigert sich in drei Begegnungen, in denen Khalid verfolgt wird, zu einem großen Spannungsbogen, der dramatisch mit einem Messerangriff endet, ohne dass der Zuschauer weiß, ob der Protagonist wirklich stirbt. Er bietet aber bei jeder Begegnung der Kontrahenten noch einmal einen in sich geschlossenen Spannungsbogen, der eine sich steigernde Gefahr aufzeigt.

Auch wenn die Erzählung offen endet, ohne dass der Zuschauer sicher ist, dass Khalid gerettet wird, entwickelt sich die Handlung insgesamt zum Positiven und mit einem Lichtblick. Waldemar kehrt zu seiner Frau zurück, die inzwischen nicht mehr trinkt und Khalid hat seine Schwester ins Land geholt, die einen Asylantrag stellen kann. Die Zukunft ist offen.

Die Protagonisten dieses Handlungsstrangs sind repräsentativ für die Menschen, die nicht nur in Finnland, sondern in allen Ländern Europas ihre extreme Ablehnung alles Fremden mit Hass und Aggressivität äußern. Dass Khalids Rettung bei einer der gefährlichen Begegnungen durch Obdachlose geschieht, denen, die unseren Gesellschaften zu den Ausgeschlossenen gehören, entspricht Kaurismäkis Bild von der Solidarität unter denen am Rande unserer Gesellschaften.

Analyse der Eingangsszenen

Der Film beginnt mit einer Totale der Kamera auf das Meer, man hört kreischende Möwen und das Rauschen des Wassers; nach einem Tuten aus dem Off schwenkt die Kamera langsam auf die Schiffe, die im Hafen ankern. Die Kamera fokussiert dann das große Schiff mit dem in riesigen Lettern verzeichneten Namen Eira, der Name eines Flusses in Norwegen; daneben ist Eira aber auch der Name der germanischen Göttin Eir sowie die Bezeichnung eines Stadtteils von Helsinki. Die Zuschauer beginnen zu ahnen, dass sich auf diesem Schiff möglicherweise etwas Besonderes ereignet, ohne zu wissen, was es ist.

Es ist Tag, das Möwengekreische wird lauter, auf dem Schiff wird gearbeitet, ein Schaufelbagger nähert sich bedrohlich groß, greift die Kohle und füllt sie in einen großen Trichter…; die lauten Geräusche der unterschiedlichen Maschinen sind hörbar.

Plötzlich gibt es einen Schnitt (1.17‘), es ist Nacht; die Schaufelradbagger stehen still, die Schaufeln hängen bewegungslos und ästhetisch schön unter dem blauen Nachthimmel, nur ein entferntes Rauschen ist zu hören. Langsam schwenkt die Kamera auf einen Kohlehaufen, aus dem sich unvermittelt der Kopf eines Mannes erhebt. Der blinde Passagier kämpft sich aus dem Kohlehaufen entschlossen nach oben und schaut mit großen schwarzen Augen und unbewegtem Gesicht nach vorn. Er beginnt sich den Schmutz abzuklopfen, dann zieht er einen Seesack aus dem Kohlehaufen, klopft sich weiter den Kohlenstaub ab und geht so, ganz schwarz, die Schiffstreppe ruhig nach oben. Er geht zielstrebig einen Gang entlang; erst leise, dann lauter werdend hört man eine Stimme. Leicht erschrocken bleibt der Mann stehen und beobachtet einen Schiffsarbeiter dabei, wie er ganz fasziniert, ohne ihn zu bemerken, einen Zeichentrickfilm auf dem Fernseher des Schiffspersonals anschaut. „Hey, mein kleiner Wetterfrosch“, sagt in dem Moment die Comicfigur, ein kleiner Bär, im Fernsehen, „wie geht’s dir denn, alles ok?“ Dann geht der Mann völlig unaufgeregt die Treppe hinab, die ihn zum Pier bringt. Er schaut sich einige Male um, sieht vor sich die erleuchteten Fenster der nächtlichen Stadt und geht dann entschlossen weiter, vermutlich in Richtung Stadt (1.29‘).

Kaurismäki erzählt diese ersten Szenen des Films ausschließlich mit Mitteln der Bildsprache, außer im Medium Fernsehen findet gesprochene Kommunikation in dieser Szene nicht statt. Gerade dadurch baut er einen starken Spannungsbogen auf, weil er den Zuschauer im Unklaren darüber lässt, was gerade passiert. Der Betrachter wird völlig unvermittelt mit dem blinden Passagier konfrontiert, der sich später als der Flüchtling Khaled erweist.

Das Auge der Kamera blickt auf den Kohlehaufen, der einige Zeit vorher von dem Schaufelbagger bearbeitet wurde, aus dem sich jetzt ein menschlicher Kopf erhebt. Der Zuschauer ahnt, in welcher Gefahr sich dieser Mensch befunden haben muss. Obwohl Khaled, der Flüchtling, vermutlich unter Lebensgefahr längere Zeit in dem Kohlehaufen verbracht hat, zeigt er über Körpersprache und Mimik keinerlei Emotionen. Der Zuschauer bleibt mit seinen Fragen: „Wie lange mag er dort in Kohlehaufen gelegen haben, wie hat er als blinder Passagier die Überfahrt auf dem Schiff ausgehalten, wo genau kommt er her und wo will er hin? allein; er muss diese Leerstellen selbst füllen und sein eigenes Denken zulassen. Nichts in Khaleds Verhalten deutet in dieser bizarren Situation darauf hin, dass er Leid erlebt hat oder dass er sich in einem schlechten Zustand befindet. Wenn er verschmutzt, aber entschlossenen Schritts die Treppe emporsteigt, wird deutlich, dass er sich nicht in der Opferrolle sieht. Schon in dieser ersten Szene wird er als ein Mensch gezeigt, der kein Mitleid möchte, sondern sein Schicksal, das ihn mehr zufällig auf der Suche nach seiner Schwester nach Helsinki gebracht hat, in die eigenen Hände nimmt. Das vermutlich beim Zuschauer durch mediale Informationen vorhandene Bild eines Flüchtlings, der Mitleid erzeugt und hilfsbedürftig ist, wird erschüttert. Kaurismäki konfrontiert den Zuschauer mit einem geflüchteten Menschen, der den Zuschauern seine Existenzberechtigung zeigt. Selbst die drohende Gefahr, durch den Schiffsmitarbeiter entdeckt zu werden, lässt den Flüchtling nur kurz innehalten, er erkennt, dass von diesem Arbeiter keine Gefahr ausgeht. Dass in diesem Moment der kleine Comic Bär den Wetterfrosch fragt, wie es ihm gehe, deutet möglicherweise darauf hin, dass diese Frage eigentlich eine angemessene Frage an den Flüchtling wäre, der sein Land unter großem Leid und unter großer Anstrengung verlassen muss. Der Flüchtling verlässt das Schiff ganz aufrecht und geht ohne Bemühen, Geräusche zu vermeiden, die Treppe zum Pier hinab. Die erleuchteten Fenster, die er vor sich sieht, weisen ihm in gewisser Weise den Weg von der Dunkelheit ins Licht.

Analyse der Gewaltentwicklung in drei Szenen

Exemplarisch für die Verfolgung von geflüchteten Menschen durch gewalttätige Schläger zeigt Kaurismäki quasi in Form einer Klimax, wie Khaled durch drei gewalttätige Neonazis attackiert wird.

Nachdem er aus der Einwanderungsbehörde kommt, wo er seine Geschichte erzählt und einen Asylantrag gestellt hat, wird er das erste Mal von drei gewalttätigen Typen attackiert (25‘). Er steht an der Bushaltestelle, die drei Männer kommen von hinten und greifen ihn übergangslos an. Sie schubsen ihn hin und her. “Willst du in die Fresse?“ Khaleds Glück ist, dass der Bus kommt, in den er flüchten kann, als dessen Tür von einem gleichgültigen Busfahrer erst relativ spät geöffnet wird. Weder der Busfahrer, der offensichtlich selbst ein Migrant ist, noch die anderen Mitfahrer/innen reagieren auf Khaleds Not, sie schauen starr geradeaus, selbst dann als die Typen die Fenster des Busses mit einer leeren Bierflasche bewerfen. Mitfahrer setzen sich von Khaled weg, anstatt ihm zu helfen oder mitfühlend auf ihn zu reagieren; von außen hört man die Stimme eines der attackierenden Männer: „Wir sehen uns wieder, du Kameltreiber“.

Die zweite, schon wesentlich schlimmere Attacke erfolgt, nachdem sich Khaled der Abschiebung mit Hilfe einer mitfühlenden Sozialarbeiterin entzieht. Er flüchtet im letzten Moment vor der Polizei und landet bei einer Musikgruppe auf der Straße (59‘); alte Musiker spielen nostalgische Musik. Khaled hört gebannt zu, als sich hinter ihm die drei gewalttätigen Schläger, die ihn schon einmal attackiert haben, bedrohlich aufbauen. Sie tragen Jacken mit der Aufschrift „Befreiungsarmee Finnland“. Parallel dazu singt der Sänger der Band „Ich bleibe solange hier, bis die Bahnhofsuhr im Turm tickt“. Khaled entfernt sich von der Musikgruppe und merkt dann, dass die drei Männer ihn verfolgen. Sie schlagen zunächst auf ihn ein, bis einer von ihnen, offensichtlich ihr Leader, sagt: „Hab ne bessere Idee“ und ihn mit Benzin einspritzt, um ihn dann anzuzünden, „Hot Dog“, sagt einer der drei grinsend. Khaled wird gerettet von einer Gruppe Obdachloser, die plötzlich auftauchen, den Leader der Truppe mit einer Flasche niederschlagen und die Truppe vertreiben. “Das nächste Mal überlebst du nicht“, sagt der Leader der Gruppe, bevor sie verschwinden. Von den Geächteten einer Gesellschaft erfährt Khaled Menschlichkeit und Schutz, den die angepassten und auf sich selbst bezogenen Menschen (s. Bus Szene) ihm verwehren.

Die dritte lebensbedrohliche Attacke trifft Khaled nach einem gemeinsamen Essen mit seiner Schwester, die er abends ins Aufnahmelager bringt. Er bittet Mirja, die Kellnerin aus Waldemars Restaurant, sie morgens um 10.00 Uhr zur Polizei zu bringen, damit sie Asyl beantragen könne. Khaled geht dann zurück und wird von dem Anführer der drei rechten Schläger verfolgt, der ihm offensichtlich aufgelauert hat und ihn heftig in den Bauch sticht (1.26‘). Er entfernt sich mit den Worten: „Ich habe dich gewarnt, Jude“. Khaled liegt am Boden, aus seinem weißen Hemd quillt das rote Blut. Durch einen harten Schnitt bleibt unklar, wie schwer seine Verletzung ist. Der Zuschauer bleibt im Ungewissen und muss befürchten, dass der Protagonist getötet wurde. Völlig überraschend sieht er Khaled am nächsten Morgen wieder (1.29‘), als der seine Schwester trifft und sie auffordert in die Polizeistation zu gehen. Erst hier wird klar, dass er den Anschlag überlebt hat. Möglicherweise hat Waldemar, der ihn am Abend in seinem Lager in der Garage nicht angetroffen, dafür aber Blutstropfen auf dem Boden gesehen hat, Khaled gefunden und verbunden; aber auch diese Aussparung kann der Zuschauer mit anderem Inhalt füllen.

Der Film endet offen, ohne dass der Zuschauer sicher sein könnte, dass der Protagonist endgültig gerettet ist. In der letzten Szene sitzt Khaled, offensichtlich durch den Bauchstich verletzt und noch sehr schwach, mit dem Hund an einem Baum, und man weiß nicht, ob er überleben wird.

1)
Titel zum Aufsatz von Alexander Fichert in: Grob/Kiefer/ Maurer/Rauscher (Hrsg.), Kino des Minimalismus, 2009, S. 204
2)
Alexander Fichert, a.a.O., S. 206
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