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Die dramatische Funktion der Musik in der Szene IV (0:45:19 – 0:48:06) des Films „The Favourite“ von Yorgos Lanthimos (UK, Irland, USA 2018)
(Brigitte Anthes-Kettler)

1. Einleitung – Der Einsatz von zwei Stücken aus der Zeit des Barock

Der Sound-Designer Johnnie Burn und sein Team von Wave Studios, UK, entwarfen in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Yorgos Lanthimos den Soundtrack zum Film „The Favourite“.1) Lanthimos legte Wert darauf, bereits existierende Musik einzusetzen. Er wählte für die ausgewählte Filmsequenz Stücke von Purcell und Vivaldi aus, zwei Komponisten des Barock, die am englischen Hof bekannt und beliebt waren. Sie sind Zeitgenossen der englischen Königin Anne (1665-1714), an welche die gleichnamige Protagonistin des Films – wenn auch sehr frei – angelehnt ist. Der Film entwirft das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Queen Anne, ihrer Freundin und Beraterin Sarah Churchill, der Duchess of Marlborough und deren verarmter Cousine Abigail Masham, die Sarah im Verlauf des Films ihre Position als Favoritin der Königin streitig macht. „The Favourite“ illustriert damit ein Intrigenspiel um Macht, Einfluss und Anerkennung zwischen den drei Frauen, bei dem die Oberhand mehrfach von einer zur anderen wechselt.

Beim ersten Musikstück (Einsatz 0:45:19 – 0:45:58) handelt es sich um die Fantasia „Three Parts upon a Ground“ des englischen Komponisten Henry Purcell (1659-1695).2) Die Viola D’Amore, auch Viola all’inglese genannt, ist ein Streichinstrument, das in der Zeit des Barocks sehr populär war. Es handelt sich um ein der Bratsche ähnliches Instrument mit 5 bis 7 Spielsaiten und ebenso vielen darunter liegenden Resonanzsaiten, die beim Spiel mitklingen. Der Klang ist weicher, wärmer und etwas rauer als der von Geige und Viole, mit einem leichten, beständigen Vibrato. Die Bezeichnung „d’Amore“ deutet darauf hin, dass sie besonders wegen ihres gefühlvollen Ausdrucks geschätzt wurde. In der Szene wird nur das Largo, der zweite, langsame, rhythmisch pointierte und gewichtige Satz eingesetzt. Seine 36 Takte begleiten die zweiminütige Handlung. Schon der erste Satz, das Allegro, drückt eher Alarm, Besorgnis aus. Dieses Gefühl verbindet sich im Largo mit Klage und Trauer. Der 2. Satz beginnt mit dem Continuo, einer kontinuierlichen, gleichförmigen Begleitung, die bis zum letzten Takt kaum variiert wird. Hier wird sie gespielt von einer Laute und zurückhaltenden Streichern mit Akkorden auf der Basslinie. Im 10. Takt setzt das Klagelied, die Cantilena der Viola d’Amore ein, das auf- und abschwillt und sich in Variationen steigert.

Es soll nun untersucht werden, welche dramaturgische Funktion diese beiden Musikstücke erhalten, um uns den emotionalen Zustand der Königin zu Beginn der Szene VI deutlich zu machen.

2. Detailanalyse der Sequenz 0:45:19 – 0:48:06 unter besonderer Berücksichtigung der Musik

Einordnung der Sequenz in die vorausgehende Filmhandlung

In den ersten drei Szenen des Films lernen wir die handelnden Personen und den Schauplatz der Handlung kennen.
Queen Anne, gespielt von Olivia Colman, wird gezeigt als Herrscherin, die ihrer Rolle nicht gewachsen scheint: launisch, manchmal kindisch, esssüchtig und von Gichtanfällen geplagt. Sie kann nur mühsam gehen und ist meist auf den Rollstuhl angewiesen. Ihrer Autorität unsicher, lässt sie ihre Wut und schlechte Laune oft an den Bediensteten aus. Besonders tragisch ist für sie, dass sie dem Königshaus keinen Nachfolger schenken konnte und 17 Kinder verloren hat. Als Trost hält sie sich 17 Kaninchen in ihrem Zimmer, die sie nach ihren gestorbenen Kindern benannt hat.
Sie wird beraten und in vielerlei Hinsicht unterstützt von Sarah Churchill (Rachel Weisz), die im Unterschied zu ihr den politischen und ökonomischen Durchblick hat, den königlichen Haushalt leitet und sich gegenüber den Männern aus Adel und Parlament am Hof durchsetzen kann. Sie kümmert sich teils energisch, teils liebevoll um die Königin, mit der sie eine erotische (Zweck-) Beziehung verbindet.
Zu Beginn des Films nimmt Sarah Churchill ihre verarmte Cousine Abigail (Emma Stone) in den Hof auf. Diese arbeitet sich vom Küchenmädchen durch Umsicht und Freundlichkeit hoch. Sie kommt der Königin näher durch Offenheit, Mitleid und kenntnisreiche Pflege, bis wir sie in Szene IV als ihre persönliche Dienerin erleben.
Hatfield House, ein jakobinisches Schloss nördlich von London, bildet den Handlungsort für das Drama. Es spielt in filmischer Sicht und als Folie für die Handlungsentwicklung eine wichtige Rolle. Schauplatz der ausgewählten Sequenz sind die berühmte „Long Gallery“ und ein weiterer Gang des Hauses, beide über 50 m lang. Jakobinische Herrenhäuser hatten sehr lange und breite, prachtvoll ausgestattete Galerien in den oberen Stockwerken. Durch die großen Fenster ermöglichten sie Ausblicke auf Garten, Landschaft, Feste und auch Jagdgesellschaften. Bei schlechtem Wetter dienten sie dazu, bei geöffneten Fenstern geschützte Spaziergänge an der frischen Luft zu machen.

Analyse Teil 1 (0:45:19 – 0:45:58)

Die erste Einstellung der 4. Szene zeigt uns Queen Anne im Rollstuhl, wie sie von Abigail vom Anfang einer dieser „Long Galleries“ langsam auf uns zu geschoben wird. Die Kamera bewegt sich im gleichen Tempo im dolly shot (auf Schienen) zurück. Sie zeigt uns in der Totale den holzgetäfelten Raum, der von links durch hohe Fenster vom Tageslicht erhellt wird. Die gegenüberliegende Seite, mit Gemälden, Möbelstücken und Dekoration bestückt, liegt im Halbdunkel. In Abständen sind livrierte Diener postiert.
Während sie auf den Betrachter zugehen, hören wir folgendes Gespräch, das an die zunehmend private Unterhaltung der beiden Frauen in Szene III beim Spiel mit den Kaninchen der Königin in deren Zimmer anknüpft.
Abigail: „Die Vergewaltigungen waren das Schlimmste. Ich fühlte mich ihnen ausgeliefert, als wäre ich ein Nichts“, sagt sie in klagendem Tonfall.
Die Königin wendet sich ihr zu, blickt zu ihr auf und berührt ihre Hand: „Du bist kein Nichts. Du bist ein lieber Mensch.“
Abigail dankt ihr: „Danke. Ihr seid wunderschön.“
Die Königin wendet sich ab und sagt: „Lass das. Du verspottest mich!“
Abigail hält dagegen: „Wäre ich ein Mann, ich würde Euch schänden!“
Die Königin ist empört: „Genug!“ und Abigail bittet um Verzeihung.

Es folgt ein harter Schnitt. Die Kamera wechselt die Position und filmt hoch oben von der den Fenstern gegenüberliegenden Wand aus. Sie nimmt in äußerster Weitwinkel-Einstellung die gesamte Fensterseite der Galerie in den Blick, die nun extrem gebogen erscheint (benutzt wird ein Fischaugen-Objektiv /fish-eye 6mm lens). Der zurückgelegte Weg von rechts wirkt viel kleiner und entfernter, ein weit geöffnetes Fenster am Anfang des linken Bilddrittels dagegen groß und hell, und man erkennt draußen im natürlichen Sonnenlicht einen Teil der gegenüberliegenden Schlossfassade. Die beiden Frauen werden seitlich von oben gezeigt, wie sie sich auf das Fenster zu bewegen. Es ertönt leise Musik von draußen, die als Teil der diegetischen Welt erkennbar wird. Abigail sagt. „Seht nur!“ Während der Fahrt durch die sonnenbeleuchtete, blumengeschmückte Galerie hatte sie versucht, im Gespräch das Vertrauen der Königin zu vertiefen, doch ihre übertriebene Schmeichelei wird von der Königin brüsk abgelehnt. Da kommt Abigail die Musik als willkommene Ablenkung zu Hilfe. Sie dreht den Rollstuhl zum Fenster hin und beide Frauen schauen hinaus.

Die Kamera nimmt nun die Perspektive der Frauen mit ihrem Blick aus dem Fenster ein. Sie schauen von oben auf den Ausschnitt eines mit Rasen bedeckten, von der Sonne hell beleuchteten Innenhofes mit einem Bassin. In dessen Wasser spiegelt sich die gegenüberliegende Fassade mit Säulengang und reich verzierten Fensterreihen. In dieser Idylle hat sich, wohl zur Erheiterung der Königin, eine kleine Gruppe von Musiker*innen versammelt. Bei näherem Hinsehen, als die Kamera sie zum zweiten Mal in den Blick nimmt, erkennt man fünf Kinder in höfischer Kleidung, dirigiert von einem älteren Herrn, ebenfalls in Livree. Sie spielen auf ihren Geigen den ersten Satz von Purcells Fantasia „Three Parts on a Ground“. Dieser heitere Tanz im Dreivierteltakt war damals sehr in Mode und fügt sich gut in den historischen Rahmen der Handlung. Es ist dies die einzige diegetische Musik des Films, deren Quelle wir beobachten können - ein Hinweis auf die Bedeutung, die der Regisseur ihr im Zusammenhang der Handlung dieser Szene beimisst.
Während die Musik spielt, beobachtet die Kamera nun in Nahaufnahme die beiden Frauen von außen, durch das geöffnete Fenster. Anfänglich sehen wir die erheiternde Wirkung der fröhlichen Melodie im leichten Lächeln der Königin, die die Musikgruppe beobachtet. Abigail steht seitlich hinter ihrem Rücken, die Hand auf der Lehne des Rollstuhls und hört mit Blick in die Ferne zu. Nach wenigen Takten ändert sich jedoch allmählich der Ausdruck der Königin vom Lächeln in Traurigkeit. Sie verlangt von Abigail: „Lass sie aufhören!“ Diese schreckt erstaunt auf und begreift nicht die plötzliche Stimmungsänderung: „Was?“ Die Königin ruft nun selbst wütend „Stopp!“, erhebt sich aus dem Rollstuhl und lehnt sich aus dem Fenster. „Genug! Stopp!“ schreit sie. Die Kamera zeigt sie jetzt von unten aus der Position der Musiker. „Hinfort! Ich befehle es!“ schreit sie und schlägt mit der Hand auf das Fenstersims. Die Kinder hören auf zu spielen. Die Königin ist außer sich und ihre Stimme überschlägt sich: „Verschwindet! Ich will es nicht hören!“ Die Kinder erheben sich und eilen ins Gebäude, gefolgt vom Konzertmeister, der sich umdreht und zur Königin hin verbeugt.

So wie für Abigail und die Musiker ist auch dem Zuschauer dieser extreme Stimmungswandel zunächst unverständlich. Wie kann diese heitere Musik, gespielt von Kindern, solch eine wütende, verzweifelte Reaktion hervorrufen?

Analyse Teil 2 ((0.46:10 – 0:48:06)

Wieder im Inneren des Ganges zeigt die Kamera nun in extremer Untersicht und Nahaufnahme die in Tränen aufgelöste Königin. Schwach beleuchtet vom Tageslicht schaut sie noch kurz zum Fenster hinaus und läuft ohne Hilfe, sich an der Fensterwand abstützend, humpelnd zum Ausgang. „Ich muss schlafen!“ und „Lass mich!“ lehnt sie barsch Abigails Hilfe ab. Schluchzend flüchtet sie ohne Rollstuhl aus der Galerie und lässt Abigail am Ort ihrer Verzweiflung zurück.

In diesem Moment beginnt das Largo, der zweite, langsame Satz aus Vivaldis „Viola D’Amore in A Moll“, als nicht-diegetische Musik, aus dem Off. Das Continuo, gespielt von einer Laute und Streichern, begleitet den schwerfälligen Gang der Königin mit langsamen, gleichmäßigen, rhythmischen Schlägen, nur vier pro Takt. Die Königin verlässt den Gang und wir sehen nach einem Schnitt, dass sie eine andere, noch prachtvollere Galerie durch eine Tür an der linken Wand betritt. Die Kamera zeigt in Weitwinkelaufnahme den edlen Boden, die goldverzierte Decke und die Fensterfront, durch die das Tageslicht den Raum schwach erleuchtet. So schnell es ihr möglich ist, geht die Königin schwankend hinüber zur Fensterseite und hangelt sich dort an den Fensterbänken entlang. Über der Musik liegt ab jetzt ein leiser, schriller, sphärischer Ton, elektronisch zugefügt, der erste Misstöne in die Melodie mischt und sie subtil-schmerzend verzerrt; so wie auch das stattliche Schlossinterieur und das taghelle Sonnenlicht mit der aufsteigenden Panik der Königin kontrastiert werden. Auf der Flucht zu ihrem Zimmer, ihrem Refugium, muss sie diese Strecke überwinden. Der Weitwinkel der Kamera betont die Länge und das bedrohlich tunnelartige der Galerie, die sich sogar noch weiter in die Tiefe zu ziehen scheint. Sie weicht zurück, bis sie die Königin in der Mitte des Ganges in Nahaufnahme zeigt. Diese wendet sich in den Raum und geht mit ausgestreckten Armen auf eine entgegenkommende Amme zu, die ein Baby auf dem Arm trägt. Sie greift sich das Baby und in Großaufnahme sehen wir, wie sie das Kind an sich drückt und sich hin und her bewegt, während sie es herzt und küsst. Das Kind beginnt zu schreien, die Amme entwendet ihr nur mühsam das Kind und geht nach vorne weg. Jetzt beginnt das klagende Motiv der Viola d’Amore. Die Musik hilft, zusammen mit dem Bild, die unerklärliche Reaktion der Königin auf die musizierenden Kinder zu verstehen: Ihr ist das Glück versagt, Kinder zu haben und aufwachsen zu sehen. Sie hat all ihre Kinder verloren und auch dieses fremde Baby darf sie nicht halten.

Jetzt zeigt uns die Kamera das andere Ende der Galerie mit einem Kaminfeuer, das unendlich weit entfernt erscheint. Die Königin sieht der Amme nach, schluchzt und wendet sich erneut zum Gehen. Sie blickt verwirrt um sich und schreit verzweifelt: „Wo bin ich?“ Ein Diener wagt von der Seite zu sagen: „Ihre Majestät sind im Westflügel.“ Wir sehen ihn dabei nicht, die Kamera zeigt in extremer Untersicht und in Nahaufnahme die Königin, über sich die golden glänzende Decke. Sie stürzt sich wütend auf den Diener und stößt ihn weg: „Wag es nicht, so mit mir zu reden!“ Jetzt weint sie laut auf und geht verzweifelt weiter.
Im Hintergrund hören wir Abigail rufen „Eure Majestät!“ Die Königin dreht sich um, ganz aufgelöst: „Du dummes Gör! Wo bist du gewesen?“ Abigail kommt von links mit dem rettenden Rollstuhl, und wir blicken noch einmal auf das Kaminfeuer am Ende des Ganges, das jetzt wie der Schlund der Hölle erscheint, dem die Königin entkommen ist. „Bring mich zurück!“ weint sie und Abigail wendet den Rollstuhl und begibt sich mit ihr auf den Rückweg. Die Viola d’Amore spielt in höherer Tonlage mit mehreren Variationen in der Melodie. Wut und Angst der Königin schlagen um in Trauer. Sie schlägt die Hände vors Gesicht, weint klagend und hemmungslos, schämt sich vielleicht auch wegen ihres Ausbruchs, aber sie ist gerettet aus dieser schrecklichen, ausweglosen Lage, in der ihr ganzes Unglück und ihre Hilflosigkeit über sie hereingebrochen sind.
Die Musik leitet über zur nächsten Szene. Abigail sitzt müde und bescheiden an der Wand des königlichen Zimmers, die Königin schläft in ihrem Bett. Sie erwacht bei den letzten Takten des Largo. Abigail fordert sie auf, mit ihr zu tanzen, um sie aufzumuntern. Die beiden exerzieren dann, ganz ohne Musikbegleitung, mit großem Vergnügen die Figuren eines höfischen Tanzes, bis die Königin ausrutscht und übermütig lachend auf dem Boden landet.

3. Fazit

Die ausgewählte Sequenz zu Beginn der IV. Szene des Films spielt eine besondere Rolle bei der Charakterisierung der Hauptfigur, Queen Anne. Der/die Zuschauer*innen, die dem höfischen Treiben in den ersten Szenen mit ironischer Distanz und Amüsement gefolgt sind, werden jetzt doch stärker in das Geschehen hineingezogen und erhalten Einblicke in das Seelenleben der Königin und ihre traumatischen Erfahrungen, ihre Selbstzweifel und ihren verwirrten Geisteszustand.
Im ersten Teil der Sequenz zeigt sich die Königin, im Gespräch mit ihrer neuen Zofe Abigail, von ihrer verständnisvollen, menschlichen Seite. Während ihrer Spazierfahrt durch die Galerie erklingt hier zum ersten und einzigen Mal im Film Musik, die vor unseren Augen aufgeführt wird. Purcells unterhaltsames, munteres Stück wird im Schlosshof von Kindern gespielt. Musikdarbietungen gehörten zum höfischen Alltag und zur Erziehung von Kindern am Hof gehörte selbstverständlich das Erlernen eines Instruments und das Vorspielen in Gesellschaft. Nachdem wir den zweiten Teil der Sequenz gesehen haben, können wir uns vorstellen, dass dies der Königin beim Anblick des kleinen Quintetts durch den Kopf gegangen sein wird. So sehr die Aufführung auch zu ihrem Vergnügen gedacht war, so sehr quält und überwältigt sie wohl der Gedanke, dass es ihr niemals gegönnt sein wird, eigene Kinder beim Musizieren zu erleben. Diesen Anblick kann sie nicht ertragen. Sie vertreibt die Gruppe mit Geschrei, in einem Anfall von Hysterie und Verzweiflung. Hier ist die Musik, aufgeführt von Kindern, Handlungsmotiv für die Königin. Sie hat eine nicht zu erwartende, paradoxe Wirkung, die zunächst für alle anderen unerklärlich erscheint und erst im weiteren Verlauf der Szene nachvollziehbar ist.
Im zweiten Teil der Sequenz spielt die Auswahl der langen Galerien als Schauplatz eine besondere Rolle. Diese besonders prachtvoll dekorierte, goldverzierte „Long Gallery“ kontrastiert mit dem Leid der Königin und kann von ihr in ihrer Schönheit gar nicht wahrgenommen werden. Sie wird im Gegenteil durch die besondere Weitwinkel-Fischaugen-Optik der Kamera in einen bedrohlichen Ort verwandelt, so wie die Königin ihn in diesem Augenblick empfinden wird. Diese Technik, zusammen mit einer extremen Untersicht in manchen Aufnahmen, lässt einen hermetischen, verzerrten, alptraumhaften Raum entstehen, in dem die Königin, dem Wahnsinn nahe, in ihrem eigenen Schloss jede Orientierung verliert. Der Zuschauer wird in diesen Sog mit einbezogen und empfindet die Panik mit ihr.
In dieser Sequenz ist die Musik nicht mehr Teil der Handlung, sondern ihr im Off unterlegt. Das Largo von Vivaldi entspricht in seiner Struktur genau dem Inhalt und dem Rhythmus der Handlung, die filmisch daraufhin komponiert erscheint. Das durchgehend gleichbleibende, langsame Continuo unterstreicht mit seinen dunklen Schlägen die klaustrophobische Raumwirkung. Die klagende Melodie der Viola d’Amore setzt ein beim Übergriff der Königin auf das Baby der Amme. Sie ist ein auditiver Schlüssel, ein Hinweis darauf, dass die psychotische Gefühlsaufwallung der Königin durch die Trauer um den Verlust ihrer Kinder begründet ist. Der kaum hörbare, schrille, elektronisch über die Musik gelegte Pfeifton verstärkt das Unbehagen des Zuschauers/der Zuschauerin. Er zeigt die Nähe der Königin zum Irrsinn, der schon im deutschen Titel des Films angesprochen ist. Das Klagelied der Viola d’Amore begleitet sie weiter in ihrer Verzweiflung und Verwirrung auf ihrem Weg durch die Galerie, bis sie von ihrer Zofe gerettet und zurück in ihr königliches Zimmer gefahren wird. Jetzt kann sie sich hingeben an Trauer und Scham und endlich Ruhe finden.
Der Regisseur bedient sich in dieser kurzen Sequenz zunächst der Wirkung von Musik als Handlungsmotivation. Im zweiten Teil setzt er ihre Fähigkeit ein, Gefühlswelten zu vermitteln. So kann der Zuschauer/die Zuschauerin teilhaben an den Emotionen der Königin und Empathie mit ihrem Schicksal empfinden. Gleichzeitig versetzt er uns mit der Verwendung von zeitgenössischer Musik in die Atmosphäre des englischen Königshofes in der Zeit von Queen Anne.

1)
Den Prozess des Sound Designs zum Film „The Favourite“ beschreibt Johnnie Burn auf amüsante Weise im Video „The Sound of The Favourite with Johnnie Burn“ auf vimeo.com/309348511, Zugriff am 10.10.2020.
2)
Es ist eine italienische Chaconne und gehört zu Purcells Feststücken im fröhlichen Tanzrhythmus, die der Hofmusiker zur Aufführung am englischen Königshof komponierte. Nur der Beginn des ersten Satzes wird im Film eingesetzt. Der zweite Teil der Sequenz (0:46:10 – 0:48:06) wird begleitet vom Largo des Stückes „Viola D’Amore in A-Moll“ des italienischen Komponisten Antonio Vivaldi (1678-1741).(( Im Film wird eine Aufnahme mit der Amerikanerin Rachel Barton Pine verwendet, die von Ars Antigua, einem Barock-Ensemble aus Chicago und vom Lautisten Hopkinson Smith begleitet wird. Sie spielt auf einer Viola d’amore von 1774 mit 6 Saiten + 6 Resonanzsaiten.
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