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Die historisch-politische Dimension (Bernd Katzenstein)

Im Frühjahr 1919 herrscht nach vier Jahren des in allen Dimensionen sehr verlustreichen Weltkriegs Waffenstillstand; die Friedensverhandlungen in Versailles verlaufen aus deutscher Sicht sehr negativ. Nicht das (liberal-idealistische) 14- Punkte-Programm des US-Präsidenten Woodrow Wilson war die erhoffte Basis, sondern die Schutz- und Revanchebedürfnisse hauptsächlich Frankreichs. Es verfolgte zwei Ziele: Schutz vor einem erneuten (dritten) Angriff Deutschlands, weswegen der Rhein als Landesgrenze gefordert wurde, und hohe Reparationen, um die enormen Schäden der deutschen Kriegsführung und Besetzung Nordfrankreichs zu beseitigen, auch um die aus den USA gegebenen erheblichen Kriegskredite zurückzahlen zu können.

1. Vom Nationalgefühl zum Nationalismus – Historische Grundlagen

Frankreich als zentralistische Monarchie war über Jahrhunderte die führende Macht auf dem Kontinent und konnte diese Macht politisch und militärisch gegenüber den zersplitterten deutschen Territorien immer wieder ausspielen (z.B. Pfalzkriege, Spanische Erbfolgekrieg) Entsprechend stark war schon früh ein Nationalgefühl mit hohem Selbstbewusstsein entwickelt.

Deutschland bestand dagegen aus über 300 selbständigen Königreichen, Fürstentümern, Grafschaften etc., locker verbunden im „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“ unter Führung Österreichs. Aus der Rivalität der größeren Staaten Österreich, Sachsen, Bayern und Preußen entwickelte sich letzteres allmählich zur Führungsmacht, was 1871 zu einem föderalen, aber einheitlichen (Klein-) Deutschen Reich unter Führung Preußens und ohne Österreich führte. Aus der im 18. Jahrhundert von Intellektuellen entwickelten Idee eines Deutschland als Kulturnation bildete sich allmählich auch ein politisches Nationalgefühl in den Gebieten des späteren Deutschen Reichs. Das schnell erstarkende Deutsche Reich rang mit dem stagnierenden Frankreich um die Hegemonie in Europa.

Schon nach dem Debakel der großen Niederlage Preußens gegen Napoleon 1805 sprachen und schrieben eher konservativ-monarchistische Kreise von der so genannten „Erbfeindschaft“ gegenüber Frankreich, auch um in den antinapoleonischen Befreiungskriegen 1813-15 die Bevölkerung besser mobilisieren zu können (Ernst Moritz Arndt, „Was ist des Deutschen Vaterland“). In vielen Schriften wurden in der Folgezeit „urdeutschen“ Werte wie Gefolgschaftstreue, Fleiß, Tiefgründigkeit und Kampfbereitschaft den „welschen“, französischen Eigenschaften wie Genusssucht, Oberflächlichkeit und Intellektualismus gegenübergestellt. Deutschen Konservativen war in der Restaurationszeit nach dem Wiener Kongress zudem die republikanisch geprägte Losung der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ höchst verhasst. Ihnen wurden „deutsche“ Tugenden z.B. Fleiß, Genügsamkeit oder Gehorsam gegenüber der Obrigkeit entgegengehalten. So wuchs allmählich ein übersteigerter Nationalismus, der das eigene für besser und andere Nationen für geringwertig hält. („Deutschland, Deutschland über alles…“).

Richtig hoch schwappte die nationalistische Propaganda einer Erbfeindschaft erst nach der Reichsgründung 1871 und das jetzt auch in Frankreich - dort mit der Bezeichnung „revanchisme“ -, das seinerseits nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 unter seiner vernichtenden Niederlage litt. Der Verlust von Elsass-Lothringen und die als hart empfundenen Reparationen in Höhe von 5 Mio. Goldmark (Studentenlied „Vous n ‘aurez pas—l´Alsace et la Lorraine…”) wurden nicht akzeptiert. Die Krönung Wilhelms I. zum deutschen Kaiser in Versailles empfand man als Demütigung.

Als später die klug ausbalancierte Außenpolitik Bismarcks ab 1890 von der Wilhelminischen Devise des „deutschen Platzes an der Sonne“ abgelöst wurde, schlitterten schließlich die europäischen Nationen 1914 in den unvorhergesehen langen und blutigen Weltkrieg (s. Christopher Clark, Die Schlafwandler). Die pazifistischen Bewegungen in Europa waren politisch zu schwach, um sich gegen die nationalistischen Strömungen durchsetzen zu können.

Aus heutiger Sicht erscheint es merkwürdig, dass die sich als Pazifisten verstehenden Antagonisten Adrien und Frantz den Kriegsdienst nicht verweigerten, denn es gab Anfang des Jahrhunderts durchaus eine pazifistische Bewegung in beiden Ländern, doch zu Kriegsbeginn erwies sie sich als machtlos und lehnte zudem eine Kriegsdienstverweigerung ab. Sie war in Deutschland bis 1945 im Kriegsfall fast nur als Desertion möglich. Nur einzelne Intellektuelle, wenige Anarchisten und etwa 50 Adventisten… verweigerten ab August 1914 die Einberufung zum deutschen Militär . Sie wurden deswegen als Geistesgestörte inhaftiert oder – häufiger – zu schweren Zuchthausstrafen verurteilt, die einige von ihnen nicht überlebten.1)

So begann ein Krieg, an dem sich nach und nach mehr als 40 Nationen beteiligten. 1918, nach vier Jahren fürchterlicher Materialschlachten, ging er für Deutschland, Österreich- Ungarn und das Osmanische Reich verloren. Insgesamt starben weltweit 10 Millionen Soldaten, davon auf deutscher Seite 2,5 Millionen (3,8 Prozent der Bevölkerung) und in Frankreich 1,7 Millionen (4,3 Prozent).

Um die militärische Niederlage 1918 zu begründen, hatte die deutsche Militärführung eine glatte Geschichtsfälschung in die Welt gesetzt, nach der die mehrheitlich konservativen Deutschen an die sog. „Dolchstoßlegende“ glaubte. Sie gab vor, das Heer sei an der Front unbesiegt gewesen und der Zusammenbruch sei durch „vaterlandslose“ linke Politiker und Kräfte in der Heimat verursacht worden, die dem im Feld unbesiegten Heer den Dolch in den Rücken gestoßen hätten. Dazu wurde im Friedensvertrag von Versailles 1919 ein Artikel 231 aufgenommen, um die harten Bedingungen völkerrechtlich zu begründen. Er wies Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Kriegsschuld zu. Das aber widersprach deutlich der mehrheitlichen Meinung der Bürger, nach der das industriell und militärisch nach 1870 schnell erstarkende Deutsche Reich im internationalen Konkurrenzkampf von seinen Feinden Frankreich, England und Russland „eingekreist“ worden sei. Diese Mehrheit teilte das Gefühl, durch den Versailler „Schandfrieden“ bitteres Unrecht erlitten zu haben. So sagte z.B. der damalige Ministerpräsident Philipp Scheidemann (SPD) „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legte?“ Eine besondere Verantwortung für den Versailler Vertrag wurde den Franzosen zugemessen.

2. Der Film

In diesem gesellschaftlichen Klima ist der erste Teil des Films in Quedlinburg angesiedelt. Allerdings ist von den Wirren des Winters und Frühjahrs 1918/19 mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen, Fememorden und Putschversuchen in Berlin, München und anderen Regionen in der sächsischen Provinz nichts zu spüren, von den psychologischen Folgen und Rachegefühlen des verlorenen Kriegs aber durchaus.

2.1 Feindschaft, Verständnis und Versöhnung im Handlungsstrang

Die deutsch-französische Feindschaft, die tiefe Trauer über die vielen Opfer, die Wut über die Niederlage und der Wunsch nach Vergeltung werden vielfach deutlich: Gleich in der ersten Szene spuckt der Friedhofswärter auf die 2-Franc-Münze, die ihm Adrien offenbar gegeben hat. Und wenig später redet Kreutz mit Dr. Hoffmeister, dem Vater des im Krieg gefallenen Frantz, der sein kriegsverwundetes Bein untersucht, davon, dass „wir wieder eine starke Nation“ werden wollen.

Als Adrien das erste Mal zum Vater kommt, weist der ihm die Tür mit der Aussage „Jeder Franzose ist der Mörder meines Sohns“. Adrien antwortet (wahrheitsgemäß) „Isch biin auch ein Mörder“ Inzwischen hat man in Adriens Hotelzimmer einen kleinen schwarzen Sarg deponiert, ein Betrunkener, dem Adrien aufhilft, spuckt aus vor ihm, und im Hotel hört er, wie das Lied „Die Wacht am Rhein“ geschmettert wird. Während des Balls fragen zwei Soldaten am Tisch“ Was will der hier?“. Auch der eifersüchtige Kreutz geht ihn an, und Adrien, sonst sehr zurückhaltend und schuldbewusst, entgegnet „imbecile“- Dummkopf. Doch die feindliche Atmosphäre wandelt sich im Verlauf der Handlung. Beim dritten Treffen beginnt die Metamorphose des Vaters „Ich habe meinen Sohn in den Krieg geschickt“. Und je mehr Adrien sich als Pazifist erweist und als leidendes Individuum von der Familie wahrgenommen wird, desto mehr ändert der Vater seine Haltung zu ihm und zum Krieg überhaupt. (Szene im Gasthaus, wo Hoffmeister sich in einen starken Gegensatz zu seinen Freunden begibt „Wir Väter haben unsere Söhne in den Krieg geschickt“, eine Aussage, die auf totales Unverständnis der Runde stößt). Annas Verwandlung von bitterer Trauer um den Verlobten, ebenfalls bekennender Pazifist, zur Neugier auf den Fremden bis hin zu einem Gefühl des hingezogen Seins wird vielfach durch ihr Minenspiel, den Wechsel auf die französische Sprache und hellere Kleidung unterstrichen.

Anna spürt im zweiten Teil des Films auf ihrer Reise nach Paris auch noch die Folgen des Kriegs (ein streng-misstrauischer Zöllner, die Ruinen Nordfrankreichs gespiegelt im Zugfenster), und sie sieht sich im Abteil einem im Gesicht verwundeten Soldaten (Gueule cassé) gegenüber. Seit Verlassen des Bahnhofs aber wird sie im Paris des Herbst 1919 –inzwischen ist der Versailler Vertrag am 28. Juni unterzeichnet und ratifiziert - weitgehend normal und höflich behandelt. Sie erfährt keine Feindschaft der Franzosen gegenüber einer jungen deutschen Frau.

2.2 Feindschaft, Verständnis und Versöhnung in der Lichtführung

Die Entwicklung der Filmatmosphäre von Trauer und Verzweiflung zu Verständnis und Hoffnung auf neue Liebe wird zum Beispiel in der Lichtführung deutlich. Am Anfang sind viele Szenen sehr dunkel gehalten, Lichtpunkte werden nur auf Gesichter und einzelne Figuren gesetzt, im Verlauf wird auch die Umgebung immer heller, die Kontraste weicher. Die deutsch-französische Atmosphäre hellt sich auf. Die Lichtführung symbolisiert anfangs das finstere, gedemütigte, depressive Deutschland und geht allmählich über zu einer versöhnlichen, freundlicheren, weicheren Atmosphäre im mondänen Frankreich der frühen Nachkriegszeit. Parallel zum Licht hellen sich auch die Gesichter der Protagonisten auf: Ablehnung, Trauer bei Dr. Hoffmeister und Anna weichen allmählich freundlicheren Gesichtszügen: Neugier, Verwunderung, Lächeln, Flirt. Auch Adriens Minenspiel entwickelt sich in gleicher Weise.

2.3 Die Kameraführung

Sie soll nur an drei Beispielen gezeigt werden. In der Szene im Gasthaus in Quedlinburg trifft Dr. Hoffmeister auf die Runde seiner Freunde. Freundlich tritt er hinzu (Totale, Halbtotale) und will nach längerer Abwesenheit eine Runde ausgeben (halbnahe oder amerikanische Einstellung). Die Kritik daran, dass er einen Franzosen bei sich zu Gast hat, wird manifestiert dadurch, dass alle Stammtischteilnehmer nacheinander die Einladung ablehnen. Die Kamera portraitiert in Nah- und Großaufnahme nacheinander die finsteren Gesichter der Gruppe. Als Hoffmeister seine geänderte Haltung erklären will, erhebt er sich zu voller Größe, die Kamera folgt ihm vom Niveau des Tischs aus nach oben (low shot). Das gibt ihm mehr Autorität und damit seinem Schuldeingeständnis („wir Väter haben sie geschickt…“) mehr Gewicht.

Anders die Kamera in den beiden sich spiegelnden Szenen, in denen patriotische Lieder gesungen werden. Paris: Eine Gruppe französischer Offiziere tritt ein (Totale, Halbtotale) und ein einzelner Gast im Bistro stimmt die Marseillaise an. Nach und nach fallen alle Gäste in das Lied ein, und die Kamera portraitiert in Großaufnahmen mehrere Gäste von vorne und im Profil, die inbrünstig und ergriffen mitsingen - ein patriotisches Gruppenerlebnis, das in der Anmutung feierlich, aber nicht aggressiv wirkt, geschuldet wohl auch der recht hellen Lichtquelle hinter den Bistrofenstern. Im Kontrast dazu Quedlinburg: Im düsteren Keller singt der Stammtisch trotzig „Die Wacht am Rhein“. Der dunkle Hintergrund, die Personen als Block schaffen eine bedrückende Atmosphäre. In beiden Szenen sind Anna und Adrien Zuschauer, die in die Handlung nicht einbezogen werden. Obwohl die Handlung des Films im Jahr 1919 spielt, sieht der Regisseur Francois Ozon durchaus Bezüge zur Gegenwart. In einem Interview äußert er sich: “Frantz hat viel mehr mit dem Heute zu tun, als Sie denken. Wir leben in sehr angespannten Zeiten. Grenzen werden wieder hochgezogen, Nationalismen kommen wieder auf. Die Angst vor dem Fremden erlebt ein Comeback. Geschichte ist oft tragisch und wiederholt sich. Mir ging es darum eine Perspektive zu zeigen, mit der ich ein neues Bewusstsein genau dafür schaffen kann“.2)

Allgemeine Quellen:

Christopher Clark, Die Schlafwandler, München 2013

Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Zweiter Band: Machtstaat vor der Demokratie. 2. Aufl., München 1993

Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Erster Band: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. Fünfte, durchgesehene Auflage, München 2002

Karen Hagemann, Aus Liebe zum Vaterland. Liebe und Hass im frühen deutschen Nationalismus: Franzosenhass. In Birgit Aschmann (Hrsg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts. Steiner, Stuttgart 2005

Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792 – 1918, Stuttgart 1992.

1)
Claus Bernet, Kriegsdienstverweigerung im 19.Jahrhundert. In: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. 12,2,2008, S.204-222
2)
„Wir leben in sehr angespannten Zeiten“ – ein Interview mit Francois Ozon mit Anna Wollner, Venedig 2016 in kino-zeit.de, 02.09 2016
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