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Die Rolle des Songs „Wieviel Liebe lässt sich wiederholen“ \\in Jia Zangkhes Film „Asche ist reines Weiß“ (China, Frankreich, Japan 2018)
(Brigitte Anthes-Kettler)

1. Einleitung – Die Bedeutung von Popsongs in Jia Zangkhes Filmen als Hintergrund der Analyse

Die Handlung des Films „Asche ist reines Weiß“ wird begleitet vom zurückhaltenden Score des Komponisten Giong Lim, der den Film atmosphärisch untermalt. An entscheidenden Stellen des Films setzt der Regisseur jedoch bereits existierende Popsongs ein, die – so soll es die nachfolgende Analyse zeigen – für die handelnden Figuren wichtig sind und die selbst eine dramaturgische Funktion übernehmen.1)
In ihrem 2019 erschienenen Buch über Jia Zangkhes Werk2) hebt Cecília Mello die herausragende Bedeutung der Popmusik hervor, die er in fast allen seiner Filme eingesetzt hat. Zangkhes besonderes Anliegen sei es, die Erinnerung an die Geschichte und Gestalt seiner Heimat China zu erhalten, die unter der rasanten und teils rücksichtslosen Modernisierung verloren zu gehen drohe.3) In seinen Filmen beschreibe er den Wandel und seine Folgen für die Gesellschaft und den Einzelnen. Zu dieser kollektiven Erinnerung gehöre in seinen Augen auch die Popmusik. Diese Einordnungen Mellos geben uns bereits einen wichtigen Hinweis darauf, welche Relevanz Musik im Film „Asche ist reines Weiß“ hat.
Wie Mello darstellt, wuchs Zangkhe (*1970) in den 1980er und 1990er Jahren in China auf, als nach der kulturellen Öffnung durch Deng Ziaoping die westliche Musik über Hongkong und Taiwan in die Volksrepublik China kam. Im Unterschied zu den revolutionären Propagandaliedern der Mao-Zeit, die die Gemeinschaft hervorhoben, sprachen die Popsongs in der 1. Person, so Mello: Die individuellen Gefühle konnten jetzt durch Text, Musik und Tanz ausgedrückt werden.4) Die Popsongs als „internationale Sprache“ schufen auch ein Gefühl der Verbundenheit zum Rest der Welt.
Cecília Mello betrachtet den Einsatz der Popmusik im Film als Teil ihres Konzepts der „hypermediacy“.5) Im Falle von Jia Zangkhe bedeutet es, dass die verschiedensten Arten von technischen Kommunikationsmedien mit dem Narrativ seiner Filme verbunden werden, ohne von der Realität abzulenken. In „Asche ist reines Weiß“ erleben wir z.B. außer der Popmusik auch Filmausschnitte aus eigenen oder fremden Produktionen, den Einsatz des Mobiltelefons oder Lautsprecherdurchsagen.
Speziell bei der Popmusik werden laut Mello zwei Phänomene wichtig: Das eine bezieht sich auf die Story, die durch den Text des Liedes erzählt wird und die sich sozusagen über das Narrativ des Films legt. Das andere Phänomen, das sie „pop video quality“ nennt, beinhaltet die melodische und rhythmische Eigenart des Songs, die die Darstellung und Bedeutung der Bilder und Klänge auf der Leinwand beeinflusst.6) So banal uns möglicherweise der Einsatz eines bestimmten Popsongs erscheint, so hat er in den Filmen von Zangkhe doch eine besondere Bedeutung in Bezug auf die Entwicklung von chinesischer Identität und Geschichte und hier auf das Filmgeschehen und seine Figuren.

Diese Phänomene sollen im Folgenden in den Szenen 1:01:20 – 1:03:19 und 1:28:05 – 1:29:36 betrachtet und überprüft werden, in denen der Song „Wie viel Liebe lässt sich wiederholen“ eingesetzt wird. Der Text und seine musikalischen Eigenarten werden vorgestellt und es wird untersucht, welche Funktion dieser Song für die Illustration der Liebesbeziehung und möglicherweise auch für die Wandlung und Entwicklung der Hauptfigur Qiao Tao im Laufe des Films erhält.

2. Der Song „Wieviel Liebe lässt sich wiederholen“

Der Song „Wieviel Liebe lässt sich wiederholen“ ist ein Song im Stil des Mandopop,7) eines westlich beeinflussten Softrock aus Taiwan, dessen sentimentale Balladen in Mandarin gesungen werden. Wie der Cantopop aus Hongkong wurde der Mandopop in Festlandchina nach dem Ende der Kulturrevolution populär, als das Land für kulturelle Produkte des Auslands geöffnet wurde. Der Text stammt von He Hou Hua, einem taiwanesischen Schriftsteller, die Musik komponierte 1994 Huang Zhuo Ying, ebenfalls aus Taiwan. Im Film „Asche ist reines Weiß“ wird der Song live von einem nicht näher benannten chinesischen Sänger gesungen, der seine Musik- und Tanztruppe als „Die Höhlenmenschen“ vorstellt.8)
Dieses melancholische Liebeslied scheint in China sehr populär zu sein, denn im Internet findet man es in den unterschiedlichsten Versionen: teils mit Klavier und klassischem Orchester eher westlich inszeniert, teils mit chinesischen Harmonien, teils von elektrischer Gitarre und Rockband begleitet wie im Film. Es wird von Interpreten beiderlei Geschlechts gesungen.

Text des Songs: „Wie viel Liebe lässt sich wiederholen?“

You Duo Shao Ai Keyi Chong Lai
How many times can love return?

Intro (instrumental)

Strophe 1

chang chang ze guai zi ji dang chu bu ying gai
I often blame myself that originally I should not have \\ Oft mache ich mir Vorwürfe, dass ich gewisse Dinge getan habe

chang chang hou hui mei you ba ni liu xia lai
I often regret that I did not ask you to stay
Oft bereue ich, dass ich dich habe gehen lassen

wei shem me ming ming xiang ai
why obviously we love each other
Wir haben uns doch geliebt

dao zui hou hai shi yao fen kai
in the end we still need to break up
Warum mussten wir uns dann trennen?

shi fou wo men zong shi pai huai zai xin men zhi wai
are we always lingering outside of the heart's door
Konnten wir uns gegenseitig das Herz nicht öffnen?

Strophe 2

shei zhi dao he ni xiang yu zai ren hai
and who knew that I would meet you in the ocean of people
Wer hätte gedacht, dass ich dir wieder begegnen würde?

ming yun ru chi an pai zong jiao ren wu nai
fate arranges it this way always let people have no choice
Das ist wohl Schicksal, dagegen kann man nichts tun

zhe xie nian guo de bu hao bu huai
these few years have not been good or bad
In den letzten Jahren geht es mir weder gut noch schlecht

zhi shi hao xiang shao le yi ge ren cun zai
only seems as if someone's existence is missing
Aber etwas hat mir die ganze Zeit gefehlt

er wo jian jian ming bai ni reng ran shi wo bu bian de guan huai
and I slowly understand you still are my unchanging loving care
Langsam habe ich verstanden, dass du das Wichtigste in meinem Leben bist

Refrain

you duo shao ai ke yi chong lai
how often can love be repeated
Wie viel Liebe lässt sich wiederholen?

you duo shao ren yuan yi deng dai
how many people are willing to wait
Wie viele Menschen sind bereit zu warten?

Prechorus

dang dong de zhen xi yi hou hui lai
when learning to treasure the future to come back
Als ich verstand, dass die Liebe kostbar ist und zurückkam

que bu zhi na fen ai hui bu hui hai zai
yet I do not know if this love will still be here
wusste ich nicht mehr, ob unsere Liebe noch Bestand hat

Refrain

you duo shao ai ke yi chong lai
how often can love be repeated
Wie viel Liebe lässt sich wiederholen?

you duo shao ren yuan yi deng dai
how many people are willing to wait
Wie viele Menschen sind bereit zu warten?

Prechorus

dang dong de zhen xi yi hou hui lai
when learning to treasure the future to come back
Als ich verstand, dass die Liebe kostbar ist und zurückkam

que bu zhi na fen ai hui bu hui hai zai
yet I do not know if this love will still be here
wusste ich nicht mehr, ob unsere Liebe noch Bestand hat

Refrain

you duo shao ai ke yi chong lai
how often can love be repeated
Wie viel Liebe lässt sich wiederholen?

you duo shao ren zhi de deng dai
how many people are worth waiting for
Wie viele Menschen sind bereit zu warten?

Outro

dang ai qing yi jing sang tian cang hai
when love has already become a mulberry tree field in a dark ocean
Wenn die Liebe verblasst

shi fou hai you yong qi qu ai
whether or not I still have the courage to love
Habe ich noch den Mut mich wieder zu verlieben?9)

Der Titel des Songs, der auch als Hookline im zweizeiligen Refrain erscheint, stellt die generelle Frage nach der Beständigkeit der Liebe, der Geduld und der Möglichkeit, sie zu wiederholen. Der Text steht in der 1. Person, die sowohl männlich als auch weiblich sein kann. Das lyrische Ich blickt in den Strophen 1 und 2 in einer Art Selbstgespräch reuevoll in die Vergangenheit, sieht eigene Fehler und bedauert die Trennung vom geliebten Menschen, die ihm/ihr heute unverständlich ist. Bei der schicksalhaften neuen Begegnung erkennt er/sie erst, wie wichtig diese Person für ihn/sie ist und fragt sich im Refrain, ob diese Liebe wiederaufleben kann. Der Prechorus vor dem 2. Refrain verschärft mit dem Zweifel am Bestand der kostbaren, wiederentdeckten Liebe noch einmal die drängenden Fragen des Refrains. Im Outro schließlich steht das Eingeständnis des Verlustes und der zaghafte Blick in die Zukunft mit der Frage an sich selbst nach dem Mut zu einer neuen Liebe.

Die eher nüchterne deutsche Übersetzung in den Untertiteln des Films erzählt die Storyline des traurigen Liebesliedes und macht seine Botschaft klar, doch entgehen uns sicher manche seiner sicher auch vorhandenen poetischen Qualitäten. Der Mandarin-Text lässt erkennen, dass sich sämtliche Zeilen auf – ai reimen, was im Gesang wie ein wiederholter klagender Ruf wirkt. In der englischen Übersetzung findet man noch einige Sprachbilder, wie „ocean of people“, „lingering outside the heart’s door“ und „a mulberry tree in a dark ocean“, die die traurige Stimmung des Liedes deutlicher machen.
Die Musik im 4/4 Takt mit seiner eingängigen, schlichten Melodie wird sehr langsam und gefühlvoll gespielt und gesungen. Sie beginnt mit einem instrumentalen Intro von 8 Takten und wirkt dann erzählend, fast wie ein Sprechgesang, der sich am Ende der beiden Strophen zu einer ansteigenden, klagenden Melodie steigert. In der Filmversion handelt es sich um diegetische Musik: Hier wird der Sänger von einer elektrischen Gitarre, einer Flöte und dem Schlagzeug dezent begleitet, sodass der Sänger und seine Interaktion mit dem Publikum im Mittelpunkt stehen. Bei den beiden mitreißend vorgetragenen Fragen des Refrains mit seiner einprägsamen Melodie finden sich wohl viele mit ihren Gedanken und Gefühlen wieder.

3. Der Einsatz des Songs im Film

Einordnung in die vorausgehende Filmhandlung

Die weibliche Hauptfigur des Films, Qiao Tao, wird aus dem Gefängnis entlassen, in dem sie 5 Jahre gesessen hat, um ihren Freund Bin vor der Verurteilung wegen Waffenbesitzes zu schützen. Dieser hat sich jedoch kein einziges Mal bei ihr gemeldet. Sie hingegen hat die Hoffnung nicht aufgegeben, die Beziehung zu ihm wieder aufnehmen zu können. Sie weiß, dass er sich in Fengjie am Jangtse-Fluss aufhält. Die Kamera zeigt sie auf einem Passagierschiff, das den Drei – Schluchten – Damm flussaufwärts fährt und sich der Stadt Badong nähert. Während sie außen an der Reling steht und mit Lin Jiadong, einem Freund Bins in Fengjie telefoniert, werden ihr Geld und Papiere aus der Kabine gestohlen. Sie hat bislang keinen Kontakt zu Bin selbst aufnehmen können, ist all ihrer Habe beraubt und verzweifelt.
In Fengjie angekommen steigt sie, ihren Rucksack zum Schutz nach vorne geschnallt, die Treppen zur Stadt hinauf. Dort begibt sie sich zur Handelskammer, in der Bins Freund Lin arbeitet. Dieser empfängt sie freundlich und stellt sie seiner Schwester vor. Bin, den uns die Kamera in einem Nebenzimmer zeigt, lässt sich verleugnen, und sie erfährt von Lins Schwester, dass Bin jetzt mit ihr zusammen ist. Qiao ist betroffen, besteht aber darauf, dass Bin ihr das selbst sagen soll und geht.

Detailanalyse des 1. Musikeinsatzes in der Sequenz 1:01:20 – 1:03:19 (Szene 6)

Nach einem harten Schnitt wird Qiao gezeigt, wie sie, zusammen mit anderen Touristen, eine sommerliche, von Bäumen und Geschäften gesäumte Allee entlanggeht. Sie hat den Rucksack wieder vor die Brust geschnallt und blickt mit traurigem Gesichtsausdruck vor sich hin. Im Hintergrund hören wir menschliche Stimmen und Verkehrsgeräusche. Dann blickt sie um sich und entscheidet sich für den Weg nach links oben, wo eine blumengeschmückte, breite Treppe zu einem großen Platz hinaufführt. Der Weg die Treppe hinauf deutet als Metapher eine mögliche Wendung zum besseren an. Die Kamera zeigt sie von hinten, während sie die Stufen zu dem Platz hinaufsteigt, der wohl noch zur alten Stadtbebauung gehört. Er erinnert in seiner Form an ein griechisch-römisches Theater mit in den Hang gebauten, halbkreisförmig angelegten, ansteigenden Sitzreihen aus Stein, die am oberen Rand von einem Säulengang mit Rundbögen abgeschlossen werden. An beiden Seiten sind niedrige, gepflegte ältere Häuser, terrassenförmig angelegt. Im Hintergrund erhebt sich ohne Übergang eine moderne, bis zu zehnstöckige Wohnbebauung. Diese (Theater-) Architektur bildet die Bühne für die folgende Szene, die musikalisch vom Lied „Wieviel Liebe lässt sich wiederholen“ begleitet wird.

Während Qiao die letzten Stufen zum sonnenbeschienenen Platz hinaufsteigt, hören wir eine männliche Stimme über Lautsprecher, die sich jedoch zunächst nicht zuordnen lässt, da der Sprecher nicht im Bild ist. Die Stimme lädt zu einer Show der Sing- und Tanzgruppe „Die Höhlenmenschen“10) in der Kulturhalle der Stadt ein. Qiao nähert sich von hinten der kleinen Menschenansammlung , die einen jungen Mann mit rot gefärbten Haaren umringt. Ganz in hellem Rot gekleidet steht er vor einem Raubtierkäfig mit einem Löwen und einem Tiger, durch dessen Stäbe hindurch wir ein großes blaues Transparent mit chinesischen Schriftzügen erkennen, mit der Bedeutung „Fengjie geht im Staudamm unter“. Durch das Mikrofon kündigt er seinen neuesten Tophit „Wieviel Liebe lässt sich wiederholen“11) an. Der Gitarrist im Hintergrund spielt die Akkorde des Intros und junge, ganz in fröhliches Gelb gekleidete Frauen tanzen auf einer improvisierten Bühne oder verteilen Flyer im Publikum. Während der Sänger die ersten beiden Zeilen des Liedes singt, schreitet er den Halbkreis der Zuschauer und Zuschauerinnen ab und spricht diese mit emotionalen und pathetischen Gesten an. Es sind überwiegend junge, sommerlich gekleidete Leute. Die Kamera erfasst ihn zunächst frontal, dann folgt sie den Bewegungen, mit denen er den Raum erschließt von der Seite des Käfigs her. Wir haben ihn seitlich im Blick und erkennen jetzt Qiao im linken Drittel des Bildes. Sie nähert sich während der Zeile „Wir haben uns doch geliebt“ dem lockeren Halbkreis von hinten, durchschreitet ihn, bleibt einen Schritt vor den anderen stehen und schaut sich um. Den Sänger, der schon an ihr vorbeigegangen ist, beachtet sie nicht. Sie richtet ihren Blick an ihm vorbei auf den Raubtierkäfig und beginnt zu lächeln. Als bei der Zeile „Wer hätte gedacht, dass ich dir wieder begegnen würde?“ der Sänger gerade vor ihr niederkniet, die sie doch um einiges älter ist als die anderen, und ihr eine rote (künstliche) Rose überreicht, tritt sie überrascht, fast peinlich berührt zurück. Zögernd nimmt sie die Rose an und betrachtet sie nachdenklich, während die Zuschauer/innen Beifall klatschen und die Zeile ertönt: „Das ist wohl Schicksal, dagegen kann man nichts tun“. Die Kamera zeigt Qiao seitlich in Nahaufnahme. Sie öffnet leicht den Mund, atmet tief ein, als sei ihr etwas eingefallen, als wäre sie gerührt vom Geschenk der Rose als einem Symbol der Liebe und aufgeweckt durch den Text des Liedes, in dem sie Bins und ihr Schicksal wiedererkennt. Hier erkennen wir eine narrative Parallele zwischen Musiktext und Filmgeschichte. Dann, noch bevor das Lied zu Ende ist, setzt sie ihren Weg fort, am Raubtierkäfig vorbei, der für eine Weile ganz allein in der Totale gezeigt wird, mit dem Tiger ruhend am Boden, dem Löwen unruhig hin und her laufend.

Die Kamera verfolgt die Ereignisse während des Liedes in einem einzigen Schwenk, ganz ohne Schnitt, während sich der Sänger und die Hauptfigur im Takt der Musik teils diagonal und gegenläufig durch das Bild bewegen. Die getragene, melancholische Melodie, der erzählende und fragende Charakter des Textes, die langsamen Bewegungen der Figuren und die ruhige Kamera, die die Position nicht wechselt, sondern die Figuren an sich vorbeiziehen lässt – all dies verdeutlicht die allmähliche Entwicklung der Gedanken, die nun möglicherweise durch Qiaos Kopf gehen und die wir in ihren Blicken und ihrer Mimik erkennen können. Die Farbe Rot in der Kleidung des Sängers und in der Rose steht im Kontrast zu Qiaos blasser Kleidung. Sie symbolisiert, nach den Enttäuschungen und schlimmen Erlebnissen, ein Wiedererwecken von Leidenschaft und, zusammen mit dem Text des Liedes, eine Erinnerung an vergangene Liebe. Gleichzeitig entsteht auch Hoffnung, denn, obwohl zunächst irritiert, ist sie sicher auch geschmeichelt, dass der Sänger ihr und nicht den jungen Mädchen die Rose überreicht hat, passend zum Text, der sich auf eine weiter zurückliegende Zeit bezieht. Man sieht aber auch, dass sie sich über den Anblick der beiden Raubkatzen freut, die die Kamera nicht ohne Grund mehrfach und deutlich in den Blick nimmt. Diese fügen sich gut in die klassische Arena, in der sie im Altertum um ihr Leben kämpfen mussten, und sie erinnern Qiao möglicherweise an die eigene Zeit hinter Gittern. Sowohl im westlichen als auch im östlichen Kulturkreis verkörpern Tiger und Löwe Ruhe, Tapferkeit und Stärke, Willenskraft und Mut und auch diese Assoziationen verleihen Qiao neue Energie.
Die Musik verklingt nach dem ersten Refrain. Mit einem harten Schnitt verlassen wir die Szene auf dem traditionellen Platz und folgen Qiao, wie sie jetzt mit energischem Schritt und mit erhobenem Kopf um sich blickend durch die Straßen von Fengjie geht, vorbei an einer Gruppe von Männern, die auf ihren Motorrad-Schlachtrössern sitzen. Mit ihrer Rose erschwindelt sie sich den Zutritt zu einem Hochzeitsessen. Sie hat jetzt neuen Mut gefasst, will die Liebe zu Bin nicht kampflos aufgeben und erreicht mit dem Einsatz von List, Härte und auch Rücksichtslosigkeit, die ihrem Ethos der Jianghu-– Brüderschaft12) eigentlich widersprechen, ein Treffen mit Bin. Dieses Gespräch in einem Hotelzimmer der Stadt zeigt ihr endgültig das Ende ihrer gemeinsamen Liebe. Sie erkennt seine Schwäche und seine männliche Selbstbezogenheit. Sie beschließt die endgültige Trennung und wendet sich weinend von ihm ab.

Detailanalyse des 2. Musikeinsatzes in der Sequenz 1:28:05 – 1:29:36 (Szene 8)

Während im Off (nicht-diegetisch) das Intro des Liedes zur 2. Songszene ertönt, geht Bin im strömenden Regen und mit gesenktem Kopf die nächtliche Treppe vom Hotel hinab. Diesmal erscheint das Bild der Treppe als Metapher für Bins Niedergang. Man hört die erste Zeile des Songs: „Oft mache ich mir Vorwürfe, dass ich gewisse Dinge getan habe“. Hier wird die Musik in mehrfacher Funktion verwandt.13) In ihrer expressiven Funktion legt sie nahe, dass es sich hierbei in Text und Stimmung um die Gedanken und Gefühle handelt, die Bin wohl zu seinem eigenen Verhalten Qiao gegenüber jetzt empfindet. In ihrer strukturellen Funktion verbindet sie zwei Szenen, indem sie zunächst am Schauplatz der nächtlichen Treppe aus dem Off ertönt, bevor sie dann diegetisch beim Live-Auftritt der Band weitergeführt wird. In ihrer dramaturgischen Funktion führt sie im Verlauf der nächsten Szene die Story des Films weiter, indem sie einen Anstoß für die Weiterentwicklung der Hauptfigur gibt.
Nach dem Abgang Bins erfolgt ein harter Schnitt in die Kulturhalle von Fengjie zum Auftritt der „Höhlenmenschen“, die wir bei ihrem Werbe-Gig im Stadtzentrum erlebt haben. Qiao hat sich also überzeugen lassen, sie anzuschauen. Bei der 2. Zeile des Liedes „Oft bereue ich, dass ich dich habe gehen lassen“ zeigt die Kamera zunächst nicht den Sänger, sondern in halbnaher Einstellung zwei Tänzer, die sich zur Musik bewegen. Ein junger Mann dreht sich und trägt dabei eine junge, leicht und bunt bekleidete Frau horizontal über seinem Kopf. Bei „Wir haben uns doch geliebt“ richtet sich die Kamera im Gegenshot auf einen Teil des Publikums im vollbesetzten, halbdunklen Saal, das sich lächelnd über die Tanzvorführung amüsiert. In der Mitte des Bildes, in einer der vorderen Reihen erkennen wir Qiao auf einem der roten Sessel, aufmerksam, aber mit unbewegtem Gesicht. Das Publikum ist nicht mehr ganz jung, wie Qiao mit einiger Lebenserfahrung, und bewegt sich, dicht gedrängt in Stuhlreihen, leicht im langsamen Takt der Musik.
Erst bei den Zeilen 4 und 5 „Warum mussten wir uns dann trennen? Konnten wir uns gegenseitig das Herz nicht öffnen?“ sehen wir den Sänger in Halbnahaufnahme von der Seite, wie er auf der abgedunkelten Bühne diese Zeilen nach hinten, also wohl an die Tänzer richtet, die uns die Kamera nicht zeigt. Bei der 2. Strophe, die vom Schlagzeug besonders eingeleitet wird, blendet das Licht auf und wir erkennen den Sänger aus der Stadt. Die Kamera zeigt uns in Nahaufnahme seinen nackten, athletischen Oberkörper. Er trägt nur eine rote Hose aus fließendem Stoff und bewegt sich auf der Bühne hin und her. Er adressiert mal die Tänzer, mal das Publikum mit großen Gesten und emotionalem, pathetischem Gesang, wobei er besonders die letzte Zeile „Langsam habe ich verstanden, dass du das Wichtigste in meinem Leben bist“ betont. Die Kamera schwenkt jetzt über die Menschen im Saal und wir sehen am vorderen Rand der Bühne von hinten den Gitarristen, der die romantische Begleitung spielt. Vor dem Beginn des Refrains fordert der Sänger sein Publikum mit Worten und eindrücklicher Geste zum Mitsingen auf – der Text scheint allen bekannt zu sein „Wieviel Liebe lässt sich wiederholen? Wie viele Menschen sind bereit zu warten?“
Jetzt nimmt die Kamera bis zum Ende des Songs nur noch Qiao in Nahaufnahme ins Bild, sodass wir ihre Reaktionen beobachten können. Sie blickt gebannt auf den Sänger und stimmt ein in den Refrain. Beim Prechorus „Als ich verstand, dass die Liebe kostbar ist und zurückkam, wusste ich nicht mehr, ob unsere Liebe noch Bestand hat“ hört sie nur zu, aber beim 2. Refrain und vor allem beim Outro „Wenn die Liebe verblasst, habe ich noch den Mut mich wieder zu verlieben?“ ist sie mit Inbrunst dabei und man hört ihre Stimme heraus. Sie singt aus vollem Herzen und bewegt sich wie ihre Nachbarn rhythmisch zum Takt der Musik. Die Frage des Outro nach dem Mut zu neuer Liebe scheint sie wieder mit Leben zu erfüllen.
Jetzt blendet sich der Film abrupt aus der Vorstellung aus. Ohne Übergang sehen wir in Panoramaaufnahme einen Schnellzug, der über eine Brücke in einer Idyllischen, bewaldeten Hügellandschaft fährt. Qiaos Leben geht weiter. Die nächste Szene zeigt sie im Zug auf dem Weg nach Xinjiang im Nordwesten Chinas, wo sie ein neues Leben anfangen möchte.

4. Fazit

Der Regisseur setzt den Song „Wieviel Liebe lässt sich wiederholen“ (überwiegend diegetisch) in zwei für die Hauptfigur Qiao entscheidenden Szenen in der Mitte des Films ein. Schauplatz ist die Stadt Fengjie am Ufer des Drei-Schluchten-Staudamms, in dem sie ihren Freund Bin aufsuchen will. Die Szenen werden eingerahmt von zwei Reisesequenzen, die sie mit dem Schiff über den Jangtse nach Fengjie bringen und am Ende mit dem Zug weiter nach Norden in die Provinz Xinjiang.14)

Wir haben gesehen: In der ersten Szene (1:01:20 – 1:03:19) beim Open-Air Werbeauftritt der Gruppe „Die Höhlenmenschen“ auf dem bühnenartigen Platz in Fengjie endet der Song mit dem 1. Refrain. Dieser lässt in seinen Fragen das Wiederaufleben der vergangenen Liebe noch offen. Qiao wird vom Sänger persönlich angesprochen und verehrt mit dem symbolischen Geschenk der Rose, und im Text des Liedes erkennt sie ihr eigenes und Bins Schicksal. Das weckt sie aus ihrer Niedergeschlagenheit und gibt ihr Leidenschaft und Energie zurück, Bin doch noch aufzuspüren und die Liebesbeziehung zu ihm wiederaufzunehmen.
Der Song setzt erneut ein (1:28:05 – 1:29:36), als sie nach dem Gespräch mit Bin sich für die endgültige Trennung entscheidet. Bins Niedergang wird durch den Text verdeutlicht.

Qiao sucht Trost beim abendlichen Konzert der Sing- und Tanzgruppe. Auch für den Betrachter/die Betrachterin wird die Bedeutung des Songs für Qiao erst richtig durch die Atmosphäre des Kultursaals erkennbar. Diesmal erlebt sie Musik und Text bewusst und als Teil einer Gemeinschaft, die das Gefühl der Trauer nach einer Trennung ebenso kennt wie sie und ihre Empfindung teilt.15) Qiao findet im Song einen Ausdruck ihrer Gedanken und Gefühle und sieht, dass sie damit nicht allein ist. Musik und Text geben ihr eine Möglichkeit, den Verlust der Liebe Bins zu verarbeiten und gleichzeitig den Mut, ihren eigenen Weg weiterzugehen.
Diese Eigenschaft der Popmusik, durch Musik und Text die individuellen Gefühle stellvertretend auszudrücken, wird, wie in der Einleitung beschrieben, von Zhangke bewusst in seinen Filmen eingesetzt. Zudem fasst der Text dieses Songs aus den 90er Jahren die Story, die Essenz von „Asche ist reines Weiß“ in wenigen Zeilen zusammen. Der zweifache Einsatz in der Mitte des Films im Abstand von 30 Minuten gibt Anstöße für die Weiterentwicklung der Handlung. Zhangke zeigt, wie seine Hauptfigur, ein Opfer des Machismo ihres Freundes, durch den Song beide Male an Stärke gewinnt. Einmal ist er Anreger und Spender von Energie, das andere Mal Trost und Mutmacher, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen.

1)
Hervorzuheben sind hier z.B. auch „Drunk for Life“ (0:08:03 – 0:10:12) mit Sally Yeh aus John Woo’s Film „The Killer“ (1989) und „Y.M.C.A.“ (0:16:30 – 0:19:39) von den Village People (1978)..
2)
Cecília Mello, „The Cinema of Jia Zangkhe: Realism and Memory in Chinese Film”, Bloomsbury Academic, London 2019
3)
Ebd. S. 24
4)
Ebd. S. 26
5)
Ebd. S. 86
6)
Ebd. S. 90
7)
Informationen aus: en.wikipedia.org, 4 July 2020
8)
Dieser Name könnte sich auf die Höhlenbauten beziehen, traditionelle Wohnbauten der ländlichen Bevölkerung, die es u.a. noch in Shanxi, der Heimat des Regisseurs gibt. Sie sind durch die radikale Modernisierung Chinas bedroht – ein durchgehendes Thema im Werk Jia Zangkes, nachzulesen bei Cecília Mello, ebd. S. 47.
9)
Source Mandarin und englische Version: http://wishfuldr34mer.blogspot.ca/2009/05/blog-post_23.html http://uptowngal.org/2007/06/01/how-many-times-can-love-return/ at September 25, 2014 Deutsche Version: Untertitel im Film Text von He Hou Hua, Taiwan Musik von Huang Zhuo Ying , Taiwan (1994) Im Film gesungen von einem chinesischen Sänger (Hua Chenyu?
10)
Jia Zangkhe könnte mit dem Namen dieser Gruppe an die Höhlenwohnungen in Nordchina erinnern, deren Existenz durch die Modernisierung bedroht ist. Siehe: Cecília Mello, ebd. S. 47
11)
Da hat der Regisseur gemogelt, wir wissen, dass der Song schon ziemlich alt ist, s. Seite 2
12)
Dies ist die Moral der Rechtschaffenheit, zu der sich Qiao sowohl zu Beginn als auch am Ende des Films bekennt
13)
Josef Kloppenburg (Hg.), „Das Handbuch der Filmmusik“, Laaber, 2012, S. 150f
14)
„….journeys are crucial to jianghu mythology.” Jia Zhangke im Interview mit Tony Rayns in newwavefilms.co.uk, April 2018
15)
Nicht ohne Grund ist „Yesterday“ von den Beatles mit den Zeilen „I did something wrong, now I long for yesterday” das meistgespielte und gecoverte Musikstück.
die_rolle_des_songs_wieviel_liebe_laesst_sich_wiederholen_in_jia_zangkhes_film_asche_ist_reines_weiss_china_frankreich_japan_2018_brigitte_anthes-kettler.txt · Zuletzt geändert: 2020/12/20 18:15 von admin