Benutzer-Werkzeuge

Webseiten-Werkzeuge


fragen_des_anstands_und_der_moral_in_asche_ist_reines_weiss_juergen_laubhold

Anstand und Moral in Zhang-Kes Film „Asche ist reines Weiß“ (Jürgen Laubhold)

Zhang-Ke betrachtet in seinem Film „Asche ist reines Weiß“ aus dem Jahr 2018 Fragen des Anstands und der Moral aus einer ungewöhnlichen Perspektive. So handeln Figuren aus dem Gangstermilieu ehrenhaft, während zum Establishment gehörende Unternehmer skrupellos lügen und ihre Mitmenschen betrügen. Beispielhaft soll dieser Aspekt hier an Qiao, der weiblichen Hauptfigur des Films, betrachtet werden.

Der erste Teil des Films spielt im Milieu einer provinziellen Gangsterbande, deren Mitglieder in den Hinterzimmern einer Vergnügungshalle in Datong Glücksspiele abhalten. Gleich zu Beginn verfolgt eine wackelige Hand-Kamera Qiao, Hauptfigur des Films und Freundin des Anführers der versammelten Brüderschaft, auf ihrem Weg durch die Halle und bezieht die Zuschauer so unmittelbar in die Szene ein, es gibt nur wenige Filmschnitte.
Das selbstsichere Auftreten der Frau, die kurzen Dialoge und Gesten auf ihrem Weg zeigen schon in dieser Sequenz, dass Qiao in dem Kreis der anwesenden Männer offensichtlich als Autoritätsperson anerkannt ist. So stecken sie auch ihre spielerisch ausgeteilten Schläge ein, ohne zu protestieren.
Qiao erreicht schließlich einen Raum, in dem an mehreren Tischen kleine Gruppen von Männern Karten spielen. Sie setzt sich zu Bin, ihrem Freund. Seine Position als Anführer der Gang wird gleich in der nächsten Einstellung deutlich, als zwei der Anwesenden in einen Streit über eine vermeintliche Geldschuld geraten. Bin wird gebeten, sich der Sache anzunehmen. Es folgt eine Art Gerichtsverhandlung. Bin lässt hierfür eine kleine Statue des Generals Guan holen.
Der Blick der Statue wird auf den Beschuldigten ausgerichtet. Guan repräsentiert offensichtlich Loyalität, Aufrichtigkeit und Anstand - und so die wesentlichen Werte der Jianghu Brüderschaft. Im Vertrauen auf den Ehrencodex der Gruppe kann Bin die Verhandlung quasi nebenbei führen, ohne sein Kartenspiel zu unterbrechen. Auch Qiao bleibt meist mit dem Rücken zur Befragung der Streitenden, ohne sich umzudrehen. Im Angesicht der Statue zeigt der Beschuldigte nun Reue und gesteht seine Geldschuld ein. Bin führt daraufhin die Hände der beiden zusammen, und der folgende Handschlag beendet den Streit: „Wir sind doch alle Brüder!“
Der Ehrencodex der Brüderschaft wird in der anschließenden Trink-Szene noch einmal von allen Anwesenden beschworen.

Bald darauf zeigt der Film aber schon, wie brüchig die Moral dieser Gangs sein kann. Ein Generationenwechsel wird angedeutet. Während die Jianghu-Bruderschaft noch ihre Regeln einhält, sieht man nun marodierende Jugendgangs, die diese kriminelle Welt in Stücke schlagen. Ein der Bruderschaft nahestehender Immobilien-Unternehmer wird ermordet. Bin wird von Jugendlichen mit einer Eisenstange angegriffen und verletzt.

Ein gemeinsamer Spaziergang mit Bin hat für Qiao weitreichende Folgen. Er führt die beiden in eine Landschaft, die von einem weithin sichtbaren Vulkan geprägt ist. Qiao spricht davon, dass durch die Verbrennung mit derart heißen Temperaturen absolut reine, weiße Asche entstehen muss. Soll die Farbe Weiß also die Reinheit der Absichten symbolisieren, frei sein von negativen Schwingungen? Bis dahin eher lebenslustig, naiv und unschuldig steht Qiao für dieses reine Weiß. „Ich bin nicht so“, sagt sie zu Bin, als er von der Welt der Gesetzlosen spricht.

Bin bietet ihr nun mit ausgestrecktem Arm seine Pistole an. Qiao zögert einen Moment, nimmt aber dann doch die Waffe und feuert gemeinsam mit Bin einen Schuss in die Luft. „Nun gehörst Du auch zu uns“, sagt Bin.

Als die beiden nun auf einer Autofahrt durch Datong von Jugendlichen angegriffen und in eine Massenschlägerei verwickelt werden, rettet Qiao Bin mit eben dieser Pistole durch einen Warnschuss das Leben, diesmal geht sie aber schon sehr selbstsicher mit der Waffe um.

Sie werden verhaftet, denn Waffenbesitz ist in China illegal. Aus Loyalität und aus Liebe zu Bin behauptet sie im Verhör, dass die Waffe ihr gehöre. Damit nimmt sie die wesentlich höhere Bestrafung in Kauf, und sie wird zu fünf Jahren Haft verurteilt, während Bin mit nur einem Jahr davon kommt.

Bereits hier zeigt sich eine veränderte Qiao. Der Schuss mit der Pistole hat die Unschuld in Qiao schlagartig beendet, und schon in der Szene, als sie Bin vor den Jugendlichen rettet, zeigt sie die mit einer gewissen Härte verbundene Stärke, mit der sie sich nach der Gefängnisstrafe zurück ins Leben kämpft und einige schwierige Lebenssituationen meistert.

In den fünf Jahren ihrer Gefängnisstrafe finden drastische soziale Umbrüche statt. Traditionelle Werte und die Art, wie Menschen zusammen leben, haben sich dramatisch verändert. Aus Gangstern sind Unternehmer geworden, die offensichtlich keine Hemmungen haben, durch Lügen und Betrug viel Geld zu verdienen und einstige Tugenden und Freundschaften über Bord zu werfen.

Zurück im Leben muss Qiao erfahren, dass Bin ihr nie die Treue gehalten hat. Er ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und mit dem Gesichtsverlust, der mit der Gefängnisstrafe verbunden ist. Seine einstigen Brüder haben ihn im Stich gelassen und ihn als Gangsterboss entthront. Als er nun auch noch schwer erkrankt, ist er am Boden zerstört und auf Hilfe angewiesen.
Diese Hilfe kommt von Qiao. Ihre Liebe zu ihm hat sie verloren, sie zeigt aber Treue und Loyalität und nimmt ihn bei sich auf. Sie sorgt für ihn und bezahlt für seine medizinische Behandlung und Pflege.

Nach der erfolgreichen Therapie führt der Film nun das einstige Paar zurück zu den Ort, an dem Qiao über die Reinheit der weißen Vulkanasche gesprochen hat. Zunächst schiebt Qiao den Rollstuhl, auf den Bin noch angewiesen ist. Dann lässt sie ihn stehen, entfernt sich ein paar Schritte und dreht sich dann zu Bin um. Sie steht nun an der gleichen Stelle wie in der Szene ihres ersten gemeinsamen Spaziergangs. Im Hintergrund ist wieder der Vulkan zu sehen. Mit einer Geste fordert sie Bin auf, zu ihr zu kommen. Mühsam richtet er sich aus dem Rollstuhl auf und geht dann auf Qiao zu. Durch sie hat er seine Krankheit überwunden und so die Chance erhalten, ins Leben zurück zu kehren.
Zhang-Ke benötigt in dieser Szene keinen Dialog, um deutlich zu machen, dass Qiao ihre Reinheit, ihren Anstand und ihre Würde bewahrt hat.
Bin glaubt offenbar, dass Qiao immer noch aus Liebe zu ihm handelt, und versucht bei einer nächtlichen Autofahrt eine Annäherung. Doch Qiao lässt das nicht zu, sie entzieht ihm ihre Hand. Auf Bins Frage, warum sie ihn denn wieder aufgenommen habe, antwortet sie: „Die Gesetzlosen würden es ‚Anstand’ nennen“.

So ist die weibliche Hauptfigur aus Zhang-Kes Film die einzige, die sich wirklich an den Ehrenkodex hält, der einst die Brüderschaft der Gangster zusammengehalten hat. Anstand und Moral bleiben bis zum Schluss Tugenden, die Qioas Denken und Handeln bestimmen. Gleichzeitig weiß sie sich durchzusetzen. Am Ende ist sie die Anführerin der verbliebenen Brüderschaft, zurück an gleicher Stelle wie zu Beginn des Films.

Bin, einst ihre große Liebe, verschwindet aus ihrem Leben. „Ich bin weg“, lässt er Qiao in einer kurzen Nachricht auf dem Smartphone wissen. Den Abschied erlebt der Zuschauer durch die bläulich kühlen Bilder der gerade installierten Überwachungskameras, die man sinnbildlich für die sozialen Veränderungen und den technischen Fortschritt Chinas sehen kann.

Das Ende ist offen. Es geht viel verloren in Asche ist reines Weiß, auch an Anstand und Moral. Qiao wirkt stark, hat sich wirtschaftlich und sozial eine stabile Position erarbeitet und lässt sich ihre emotionale Gebrochenheit nicht anmerken, aber ihre Zukunft bleibt ebenso ungewiss wie die Richtung, in die sich der gesellschaftliche Fortschritt in der Welt um sie herum bewegt.

fragen_des_anstands_und_der_moral_in_asche_ist_reines_weiss_juergen_laubhold.txt · Zuletzt geändert: 2020/12/20 17:25 von admin