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geheimnisvoller_prolog:analyse_der_1._sequenz_des_films_ema_von_pablo_larrain_brigitte_anthes-kettler

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geheimnisvoller_prolog:analyse_der_1._sequenz_des_films_ema_von_pablo_larrain_brigitte_anthes-kettler [2022/02/07 13:42] admingeheimnisvoller_prolog:analyse_der_1._sequenz_des_films_ema_von_pablo_larrain_brigitte_anthes-kettler [2022/02/07 13:54] (aktuell) – angelegt admin
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 Im Folgenden soll untersucht werden, wie wir in dieser 1. Sequenz audiovisuell in die diegetische Welt des Films eingeführt werden. Im Folgenden soll untersucht werden, wie wir in dieser 1. Sequenz audiovisuell in die diegetische Welt des Films eingeführt werden.
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 +**2. Beschreibung**
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 +00:00:20
 +\\ Der Film beginnt mit schwarzer Leinwand, der Ton geht im J-Cut dem Bild voraus. Man hört nur ein lautes Knistern, wie von Feuer, in das sich leise Hintergrundgeräusche mischen – ganz nah: das Flattern von Vogelflügeln und Zwitschern von Spatzen, entfernt: Möwenschreie, das Geräusch der Meeresbrandung, der dunkle Klang eines Schiffshorns.  
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 +00:00:46
 +\\ Dieser diegetische off-sound wird nun, zunächst kaum wahrnehmbar, unterlegt durch nicht-diegetische, elektronische Hintergrundmusik, die den Ton des Schiffshorns aufgreift. Es ist ein dunkler, schräg gezogener, leicht auf und ab gleitender, echoartiger Klang, der als Begleitton über die gesamte Sequenz anhält. Leicht variiert, steigert er sich in der Lautstärke, während die Atmo-Geräusche des Anfangs allmählich zurücktreten. Sobald diese Musik einsetzt, zeigt uns der Film endlich die diegetische Ursache des Knisterns: Eine in Flammen stehende Verkehrsampel, die zentral über einer Straßenkreuzung an Drahtseilen hängt und zunächst noch in alle Richtungen leuchtet. Das Feuer verstärkt sich, schwarzer Rauch steigt auf und brennende Teile fallen hinunter auf die menschenleere Straße. Es ist noch dunkel und erst allmählich setzt die Morgendämmerung ein, so dass sich der Himmel langsam von schwarz zu blau färbt. Die Kamera, fokussiert auf die brennende Ampel, zeigt aus erhöhter Position eine von seitlichen Straßenlaternen in weißlichem Licht nur schwach beleuchtete, gerade verlaufende Straße mit mehreren Seitenstraßen.  Sie ist nicht sehr breit mit eng aneinander gebauten Häusern wechselnden Alters und unterschiedlicher Höhe. Dadurch fällt nur wenig Licht ein. Sie endet in der Entfernung an einer schon etwas belebten Querstraße, auf der vereinzelt Passanten und sporadisch vorbeifahrende Autos erkennbar sind. Hinter ihr zieht sich die kleinteilige Bebauung einen Hang hoch. Mehrere Seitenampeln, die an den jeweiligen Kreuzungen angebracht sind, Beleuchten die Szene abwechselnd in verschiedene Farben. So sind sie am Beginn der Sequenz von Grün auf Rot gesprungen. Die Hängeampel steht in Flammen und funktioniert nicht mehr.
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 +00:01:00
 +\\ Über dem düsteren Begleitton setzt jetzt, im Charakter einer großen Streichergruppe, eine langsame, auf und ab schwingende, etwas hellere Melodie ein. Die fallende Akkordfolge a-Moll, g-Dur, e-Moll erinnert an Sirenentöne, verzerrt durch Glissandi, wie sie im Vorbeifahren eines Feuerwehrwagens zu hören sind. Die Kamera springt nun ca. 20 m zurück und zugleich herunter auf Augenhöhe. Die Straßenszene erscheint damit in größerer Distanz. Von der Querstraße her nähert sich ein Auto. Die Lautstärke der Hintergrundmusik nimmt zu, die dramatische Wirkung wird verstärkt durch eine abfallende Quinte am Schluss jedes Sirenenmotivs. Elektronisch stark abwärts verzerrt erzeugt sie einen hypnotischen Sog in die Tiefe.
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 +00:01:19
 +\\ In einem fließenden tracking shot zieht sich die Kamera langsam zurück, so dass links im Bild eine Figur erscheint, an der die Kamera seitlich vorbeifährt und erst knapp hinter ihr stehen bleibt, bis diese vom Kopf bis zur Hüfte zu sehen ist. Die Figur steht uns mit dem Rücken zugewandt auf der Straße und betrachtet ruhig die brennende Ampel. Im schwachen Licht erkennt man nach und nach einen Hinterkopf mit blonden, nackenlangen, glatt angelegten Haaren, darüber gespannt ein Gesichtsschutz-Visier mit gelbem Kopfteil und hochgeklapptem Schutzschild. Auf den Rücken geschnallt, über einer dicken Steppjacke trägt die Person einen großen runden Kanister, im rechten Arm erkennt man einen Schlauch. Sie löscht die Flammen nicht.
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 +00:01:40
 +\\ Die Seitenampeln springen auf Grün, die Figur dreht sich links sich zur Seite und geht mit gesenktem Blick an der Kamera vorbei aus dem Bild. Die immer weiter anschwellende Musik setzt sich fort, als die Kamera in einem harten Schnitt abrupt die dunkle Straßenszene verlässt. Sie folgt der Person, indem sie zunächst in Nahaufnahme ihren unteren Rücken mit einem Teil des Metallkanisters zeigt. Im Hintergrund erkennt man unscharf die bläulich-grauen Umrisse eines nach rechts abfallenden Hügels vor einem Himmel, der sich in der Morgendämmerung von unten her leicht rosa und hellblau färbt. Die Figur geht langsam weiter und wendet sich dabei nach rechts. Erst jetzt kann man erkennen, dass es sich um eine schlanke junge Frau handelt. Hinter ihr sind nun das Wasser einer Hafenbucht, eine Kaimauer und die Silhouette von Kränen am anderen Ufer zu sehen. Sie wendet sich nach links, bleibt mit dem Rücken zur Kamera am Hafenkai stehen und schaut über das Wasser. Die Kamera bewegt sich hinter ihr nach rechts und positioniert sie in Halbtotale und leichter Untersicht in der Mitte der Leinwand. In ihrer linken Armbeuge erkennen wir den gewehrartigen Griff eines Flammenwerfers.
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 +00:02:05
 +\\ Der dröhnende Sound setzt sich fort, als die Leinwand für einige Sekunden schwarz wird. Erst jetzt wird in kleinen Buchstaben der Filmtitel „Ema“ eingeblendet, wie um diese junge Frau namentlich vorzustellen. Er klingt im L-Cut allmählich aus, als Ema in ihrer Steppjacke – aber ohne Flammenwerfer – in einem Zeitsprung bei Tageslicht die Treppe innerhalb eines Gebäudes hinauf geht, vom oberen Stockwerk her in Aufsicht gefilmt.  
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 +00:02:20
 +\\ Vor dem Eingang zu einem Bürotrakt kontrolliert ein Sicherheitsbeamter ihren Rucksack, den sie bereitwillig vorzeigt, und die Musik hört auf.
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 +**3. Analyse**
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 +26 Sekunden, ungewöhnlich lang, bleibt die Leinwand schwarz. Das laute Knistern eines Feuers schärft das Gehör und die Konzentration, schafft Assoziationen und innere Bilder, regt die Fantasie an und macht neugierig darauf, was im Anschluss wohl gezeigt wird. Eine geheimnisvolle, leicht bedrohliche Atmosphäre entsteht. Dieses durch seine Lautstärke im Vordergrund stehende, natürliche Geräusch aus dem Off wird durch weitere leise, diegetische Geräusche unterlegt, die einen konkreteren Klang-Raum in der Vorstellung entstehen lassen. Man hört Vogelgezwitscher und das Flattern von Flügeln. Brandung und Möwengeschrei bezeugen die Nähe des Meeres, und das tiefe maritime Hornsignal weist auf ein großes Schiff hin. Im Kopf erscheint der Gedanke, dass wir in der Nähe eines Seehafens sind, zu dessen Umgebung die im Anschluss gezeigte Straßenszene gehören könnte.
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 +Die zunächst klanglich generierte Erwartungshaltung erfährt in der ersten Kameraeinstellung eine überraschende, eher befremdliche Befriedigung. Das schon akustisch vorweggenommene Knistern lässt sich nun zurückführen auf eine in hellen Flammen stehende, hoch über einer städtischen Kreuzung hängende, in alle vier Richtungen leuchtende Verkehrsampel. Das sieht gefährlich aus und lässt den Eingriff der Feuerwehr nötig erscheinen. Der Brand scheint jedoch noch nicht bemerkt worden zu sein, denn die Straße ist dunkel und menschenleer. Nur ganz im Hintergrund, über den Häusern einer Querstraße, sieht man am Himmel die beginnende Morgendämmerung. Rätselhaft erscheint die Ursache eines solchen Feuers, denn es brennt nur diese eine, altmodische Hängeampel. Die weiteren Ampeln am Straßenrand und die Straßenbeleuchtung sind jedoch intakt.
 +\\ Das Straßenbild weist auf ein älteres Stadtviertel mit schmalen Straßen und überwiegend niedriger, historischer Bebauung hin, planlos durchsetzt mit höheren, modernen Gebäuden. Nimmt man die nächste Einstellung hinzu, so ergibt sich das Bild einer alten, von Hügeln umgebenen Hafenstadt am Meer.
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 +Das Knistern bei schwarzer Leinwand hat die Neugier geweckt, der Anblick der brennenden Ampel hat überrascht und erschreckt. Die Spannung wächst nun durch den Einsatz der elektronischen Musik. Im Verlauf der Sequenz steigert sie sich vom leisen Beginn zum raumgreifenden Crescendo und drängt sich in der Wahrnehmung immer mehr in den Vordergrund. Der düstere Begleitton erzeugt ein Gefühl der Warnung, Bedrohung und Angst, das Sirenenmotiv weist auf Gefahr hin und die fallende Quinte gräbt sich ein als verzweifelter, tiefer Niedergang.
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 +Alle musikalischen Motive sind vorgestellt, die Emotionen aufgewühlt, als die Kamera endlich eine mögliche Auflösung des Rätsels anbietet. Sie weicht auf der nächtlichen Straße zurück und eine Person kommt langsam ins Bild, die dort wohl schon einige Zeit beobachtend gestanden hat. Sie wird nur unvollständig und von hinten gezeigt und ist zunächst nicht eindeutig als Mann oder Frau identifizierbar – das Rätsel wird noch einen Moment lang fortgesetzt. Erwartet würde jemand, der versucht, das Feuer zu löschen, Kanister und Schlauch unterstützen den Gedanken, aber die Figur regt sich nicht. 
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 +Die folgenden Einstellungen am Hafen bieten eine weitere Überraschung. Eine zarte junge Frau mit unbewegtem Gesicht posiert in männlicher Kleidung, Bewegung und Haltung. Mit einem Flammenwerfer im Arm überblickt sie breitbeinig als nächtliche Superheldin ihr Reich. Sie ist die Herrin der Stadt, die durch Feuer zerstört und Gesetze bricht. Der Schluss liegt nahe: Sie hat die Ampel in Brand gesetzt. Der Flammenwerfer, deutet man ihn als Waffe und Phallussymbol, bietet ihr Triumph und Macht. Doch das letzte Motiv der Melodie, der verzerrte, herabziehende Sog in die Tiefe, deutet einen emotionalen Unterton von Verzweiflung und Sehnsucht an.
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 +Größer könnte der Kontrast nicht sein: Ema, gerade noch auf schwarzer Leinwand und mit dröhnender Musikbegleitung als Hauptfigur des Films und Titelheldin namentlich vorgestellt, erscheint bei hellem Tageslicht in einer Behörde. Schmal und unbewaffnet, von oben gefilmt, steigt sie als Bittstellerin eine Treppe hinauf und unterwirft sich bereitwillig der Kontrolle der Security.
 +Da kann die Musik nur noch kraftlos verklingen.
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 +**4. Fazit**
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 +Die Einführung in die diegetische Welt des Films „Ema“ geschieht im Prolog auf verschiedenen Ebenen. Er dient vor allem dazu, uns die Hauptfigur Ema vorzustellen. 
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 +Dazu gehört ihr Lebensraum, die chilenische Hafenstadt Valparaiso, von der uns durch Bild und Ton ein erster Eindruck vermittelt wird. Ein wenig glamouröses Altstadtviertel ist ihr Revier, ebenso die nahegelegene Hafenbucht am pazifischen Ozean. Valparaiso gilt als kulturelle Hauptstadt Chiles, und Ema ist Mitglied eines zeitgenössischen Balletts, das von ihrem Ehemann als Choreograph geleitet wird. Mit ihren Freundinnen tanzt sie privat in einer Reggaeton – Gruppe, die im Film durch die einfachen Viertel streift, die steilen Seilbahnen die Hügel hinauf benutzt und sich gern am Strand und den Hafenmolen aufhält. 
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 +Durch ihr Posieren am Hafen gewinnen wir im Prolog den Eindruck einer anarchischen, kämpferischen jungen Frau. Sie hat wenig Achtung vor Gesetzen und öffentlichem Eigentum und eine besondere Liebe zur zerstörerischen Kraft des Feuers, spektakulär vorgeführt durch die von ihr in Brand gesetzte Ampel.
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 +Das Feuermotiv spielt eine herausragende Rolle im Film. Vor dem Parlamentsgebäude kommt es häufig zu Straßenschlachten zwischen linksgerichteten Demonstranten und der Polizei, die auch in einer Szene des Films erwähnt werden und Emas Ausrüstung mit einem Flammenwerfer erklären könnten. Die Ballettaufführung, in der Ema mitwirkt, hat als Bühnenbild eine riesige, belebte Abbildung der Sonne mit ihren Protuberanzen. Sie erwählt einen Feuerwehrmann zu ihrem Liebhaber. Ganz offen präsentiert sie im Kreis ihrer Freundinnen den Flammenwerfer in Aktion. Das ist für sie „ein Stoß kochendes Wasser zwanzig Sekunden lang aus einem Elefantenrüssel, die Ejakulation eines Dinosauriermännchens.“ sagt sie und grinst dazu (Kap.5 „Feuer“). Diese Konnotation männlicher Sexualität mit dem Flammenwerfer und ihr Verhalten während des Ampelfeuers lässt auf eine pyromanische Neigung schließen. In der letzten Szene des Films sieht man sie an einer Tankstelle, wie sie ihren Kanister wieder auffüllt. Sie hat ihre Ziele erreicht, Familie und Freunde haben sich ihren Wünschen untergeordnet, aber sie beendet ihr Zerstörungswerk nicht, scheint ihrer Manie ausgeliefert.
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 +Auffällig im Prolog sind auch die betonte Männlichkeit ihres Auftritts, die Rücksichtslosigkeit der Brandstiftung und der Machtanspruch, der in ihrem Posieren mit der Waffe am Hafen zum Ausdruck kommen. Im weiteren Verlauf des Films bestimmen diese Charakterzüge ihr Verhältnis zu den sie umgebenden Personen. Auf den Straßen der Stadt ist sie die Anführerin ihrer Reggaeton-Gang, die mit harten, eckigen Bewegungen zu einem einfachen, elektronischen Sound mit stampfendem Grundrhythmus tanzt. 
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 +Der elektronische Score des Komponisten Nicolas Jaar zieht uns – zusammen mit den eindrucksvollen Bildern des Prologs – von Anfang an in seinen Bann. Er schafft eine tiefe Raumwirkung durch das Aufgreifen des Schiffshornklangs. Die Sirenen – Akkorde unterstützen das Motiv des Feuers. Durch die ansteigende, zum Schluss dröhnende Lautstärke wird Spannung und eine tranceartige, bedrohliche Atmosphäre erzeugt, die uns in den Film hineinzieht. Die abfallende Quinte mit ihrer Sogwirkung in den Abgrund deutet an, was in den Bildern des Prologs zunächst nicht zum Ausdruck kommt: Unter dem kühlen, selbstbewussten, fast herrischen Auftritts Emas könnten Verzweiflung und Sehnsucht schwelen. Das Ende der Sequenz mit ihrem Gang zur Behörde zeigt sie schließlich auch in ihrer Zerbrechlichkeit. 
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