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JIA ZHANGKE ZURÜCK AM DREI-SCHLUCHTEN-STAUDAMM IN „ASCHE IST REINES WEISS“ (Bernd Heinen)

China befindet sich in allen Filmen von Jia Zhangke im Zustand der Atemlosigkeit. Der Jangtse und der Drei-Schluchten-Staudamm sind seine Metaphern dafür. In dieser Analyse soll die Bedeutung des im Werk von Jia Zhangke immer wiederkehrenden Drei-Schluchten-Damms aufgezeigt werden. Gleichzeitig geht es um die weibliche Hauptperson dieses Films, Qiao, gespielt von Zhao Tao, durch deren Blick wir auf die Umwälzungen Chinas sehen.
Jia Zhangke (geb. 1970) ist der filmische Chronist des heutigen China. Er beschreibt in seinen Filmen die gigantischen Umbrüche der chinesischen Gesellschaft, die ein Ergebnis der „Reformpolitik“ unter Deng Hsiao-Ping nach dem Ende der Kulturrevolution und dem Ableben von Mao Tse-tung sind. Seit seinen ersten, kurzen Filmen (1994) bis zu „Asche ist reines Weiss“ (2018) zeigt er China im Zustand eines sich ständig steigernden Entwicklungstempos , einer vollständigen, historisch einmaligen Beschleunigung aller gesellschaftlichen, politischen und individuellen Bedingungen. Viele seiner Werke sind entweder ganz oder in Teilen am Jangtse und am
Drei-Schluchten-Staudamm
gedreht; dieser Damm ist Metapher dafür, dass die Staatsmacht vor nichts haltmacht, dass alles Alte untergeht und das, was kommt, noch unsichtbar ist.
In dem zu analysierenden Film, der zwischen Gangstermilieu, Reisebericht und Erzählung einer unglücklichen Liebe hin- und herschwenkt, sind die Staudamm-Szenen Teil einer im Vergleich zu „Still Life“ (2006) nur sehr kurzen, siebenminütigen Verbindung zwischen dem ersten Erzählstrang, der in der nördlichen Provinz Shanxi spielt, und der Suche nach ihrem früheren Geliebten Binh, für den sie fünf Jahre im Gefängnis gesessen hat, sowie der Fahrt Richtung Xinjiang und der Rückkehr zum Ausgangsort der Handlung, der Stadt Datong.
Der ganze Film funktioniert wie eine Symphonie in drei Sätzen, ist wie immer bei diesem Regisseur weniger an geschlossener Narration interessiert als am virtuosen Spiel mit Motiven, ihrer Wiederholung und Variation. Jia Zhangke und sein Kameramann konzentrieren sich nicht nur auf die Darsteller und ihre Geschichte, sondern auch und gerade auf die Räume und Landschaften, in denen sie sich bewegen. Dabei finden die Figuren mit den Jahren zwar immer mehr Freiheit in den sich ausweitenden Bildern, zugleich vergrößert sich aber auch die Leere, die sie umgibt. China wechselt von seiner traditionellen, auch in präkommunistischen Zeiten, eher kollektivistisch angelegten Lebensform zu einem radikalen, turbokapitalistisch unterfütterten Individualismus.
Genau wie in den Anfangssequenzen von „Asche ist reines Weiss“ (die Busfahrt der Arbeiter, die aus seinem Frühwerk „Pickpocket“ (1996) stammt), hat Jia Zhangke auch in den Schluchten-Szenen nach eigenen Aussagen übrig gebliebenes Filmmaterial aus „Still life“und dem Kurzfilm „Dong“ (2005) über den am Staudamm arbeitenden Maler Liu Xiao Dong in seinen neuen Film eingebaut. Wir sehen Jia Zhangkes „Muse“ Zhao Tao in der gleichen weiß-gelblichen Bluse, mit dem gleichen Pferdeschwanz wie in „Still life“. Sie greift in beiden Filmen immer wieder zur Mineralwasserflasche. In „Still life“ gingen gleich zwei Liebes- und Ehegeschichten am Staudamm endgültig zu Ende (Zhao Tao spielt dort eine Krankenschwester, die nach Fengjie kommt, um ihrem als Ingenieur arbeitenden Mann mitzuteilen, dass ihre Ehe geschieden wird, und sie mit einem anderen Mann nach Shanghai zieht). In „Asche ist reines Weiss“ will sie versuchen, Binh zur Rede zu stellen und sich vielleicht von ihm endgültig zu trennen. Der Staudamm-Bau ist in diesem Film in seiner Endphase; viele Städte, die in „Still life“ noch bewohnt waren, sind untergegangen. Die Menschen wurden „umgesiedelt“. Auch die anarchische Unordnung im älteren Film ist fast beseitigt, die alten Hutongs (traditionelle Stadt- und Wohnviertel) sind untergegangen und durch gigantische Hochhäuser ersetzt worden. Jia Zhangke registriert die Umbrüche genau, ohne sie direkt zu benennen. Seine Chronik der zerstörerischen Ereignisse ist keine agitatorische, sondern eine ästhetisch-cineastische, die nicht benennt, sondern mit intensiver Visualität arbeitet. Er lässt den Zuschauern alle Freiheiten der Wahrnehmung. Die Darstellung von Alltagskriminalität etwa wird eher nebenbei registriert; erst die Summierung aller dieser Lebensereignisse führt zur Erkenntnissen über die Lebenssituation im heutigen China. Als Beispiel ein Protokoll der Staudamm-Szenen in diesem Film:

Die Szenen am Drei-Schluchten-Damm

51:40 Noch während des Gefangenentransports der Frauen durch Datong hin zu einem Gefängnisneubau, ertönt melancholisch-sphärische Synthesizer-Musik. Schnitt. Wir sehen den Jangtse und seine sehr starke Strömung. Zwei Lastschiffe. Qiao steht sehr nachdenklich im rechten Bildteil mit einer Wasserflasche an der Reling. Sie betrachtet die Landschaft. Die Handtasche hängt links über ihre Schulter. Sie trinkt einen Schluck. Mit einer Hand reibt sie sich durch ihr Gesicht. (Eine Geste, die Humphrey Bogart gerne in ähnlichen Situationen zeigte; Jia Zhangke ist bekennender Film-Noir-Fan). Die Kamera steht fest und zeigt sie in Halbnahaufnahme. Sie geht den Gang entlang. Schnitt.

52:42
Sie sitzt in ihrer Kabine. Eine zweite Person kommt mit Essen in der Hand hinein und sagt „ich schlafe auch hier“. Diese betet einen christlichen Text vor dem Essen. Sie fragt Qiao, woher sie komme und versteht die Antwort (Provinz Shanxi) nicht. (Bei Jia Zhangke ist das Nichtverstehen der Menschen aufgrund der unterschiedlichen Dialekte und der vielen sprachlich eigenständigen Minderheiten ein wichtiges Subthema in seinem Werk). Über Lautsprecher wird die baldige Ankunft in Badong angekündigt.

53:33
Großaufnahme von Qiao. Sie hat ihr Handy in der Hand und geht nach draußen an die Reling. Die Kamera verfolgt sie von hinten und öffnet den Blick auf die Hochhäuser einer Stadt. Sie telefoniert, während das Schiff sich auf eine Brücke, die den linken Teil des Bildes einnimmt, zubewegt. Wir sehen ihr ins Gesicht und sind mit dem Schiff in Bewegung. Die hier verwendete parallele Achsensicht führt klassisch im Kino zu einer hohen Identifikation des Zuschauers mit der Figur. Sie steht praktisch im Goldenen Schnitt.
Sie erreicht ihren Ex-Geliebten Binh am Handy nicht, fragt „hat er die Rechnung nicht bezahlt?“. Sie kommt in ihre Kabine zurück. Die Kamera bleibt draußen und zeigt sie durch sehr staubige Fenster. Sie geht nervös auf und ab.

55:03
Die Kamera ist jetzt in der Kabine. Durchsage: „Wir erreichen in Kürze Badong“. Sie bemerkt den Diebstahl ihres Portemonnaies, da ihr Gepäck an einer anderen Stelle lieg als vorher, sie durchsucht aufgeregt und vergeblich ihren Rucksack und ihre Tasche. Geldbeutel und Papiere fehlen. Sie läuft die Reling entlang, die Kamera ist in Bewegung, spiegelt ihre Nervosität, verfolgt sie von hinten. Sie klopft an die Fenster anderer Kabinen. Die Passagiere, die ins Bild kommen, zeigen Desinteresse an ihrer Situation. Sie sucht verzweifelt die Diebin, fragt am Schiffskiosk nach einer schwarzgekleideten Frau, läuft weiter durch einen Kabinengang, und bleibt dann verzweifelt stehen. Die Brücke erscheint wieder im linken Bildteil. Qiao weint.

55:56
Ein Insert: „Sicherheit und Ordnung im Hafen verbessern“. Die Kamera fährt in einem Linksschwenk über die Flusslandschaft. Zunächst ist ein älteres Fährschiff zu sehen, dann Uferlandschaft mit den Resten einer untergegangenen Stadt. Ein Katamaran fährt durchs Bild. Lautsprecherdurchsage: „Betrachten sie die Ufer des Jangtse. Am 21.9.2006 wird der Pegel auf 156 Meter ansteigen. Der maximale Pegel wird 175 Meter sein. Die 4. Phase der Umsiedlung steht unmittelbar bevor. Die Sehenswürdigkeiten, die sie jetzt noch sehen, werden dann alle Ruinen unter Wasser sein“.

56:48
Schnitt. Es ist dunkel. Qiao steht auf dem Schiff. Ihr Profil ist im Schatten zu sehen. Schnitt. Morgen. Dunkle Wolken. Das Schiff fährt durchs Bild nach links in den Hafen. „Bitte benutzen sie die Treppe, die Transportkabinen sind außer Betrieb“. Die Passagiere gehen eine lange, steile Treppe nach oben (identische Szene auch in „Still life). In ihrer Mitte: Qiao, die den Rucksack auf den Bauch nach vorne trägt.

57:40
Schnitt. Qiao schreitet durch eine Einkaufsstraße in Fengjie.

TRÜMMERLANDSCHAFTEN DER SEELE UND DES LANDES

Das postsozialistische China, gesehen durch den Blick einer Frau. Kein Regisseur der „6. Generation“ hat bisher eine Frau als Hauptfigur derart radikal in den Mittelpunkt eines Spielfilms gestellt. Sie ist häufig in Großaufnahmen zu sehen. Dahinter bilden Diagonale und verschiedene Linien oft strukturell aufgebaute Blicke auf eine zerstörte Landschaft. Der Film bezieht seine Ausdrucksstärke auch durch die beispielhaft im obigen Protokoll geschilderte mikroskopische Betrachtung der Wirklichkeit und deren poetischer Verdichtung. Jia Zhangke wirft einen resignierten Blick auf diese Trümmerlandschaften, die sich in die Seelen seiner Protagonisten eingeschrieben haben und auf die Zerstörungen, die seinem Heimatland widerfahren sind. Dieses China ist seit den Gangstertagen des ersten Filmteils ein anderes geworden; der zwar genrespezifische, aber gelebte „Anstand“ des Anfangs ist für viele durch Entwurzelung und Vereinsamung ersetzt worden. Der Originaltitel von „Still life“ heißt übersetzt: „Die guten Menschen vom Drei-Schluchten-Damm“. Jia Zhangke findet auch in seinem neuen Film diese Menschen nicht. Denn: „Die Gangster von gestern sind die Unternehmer von heute“. Wir werden einige aus der alten Datong-Gang später als erfolgreiche Wirtschaftsbosse wiedersehen. Trotz einer offenkundigen Trostlosigkeit und einer unsicheren Lebenswirklichkeit, die der Inhalt des Films nahelegt, ist die tiefer liegende Stimmung des Films jene einer melancholischen Schönheit und einer Affirmation des Lebens. Qiao reist mittellos durch das Land. Eine vergebliche Suche nach Liebe als eine Geschichte weiblicher Adaptations-, Widerstands- und Emanzipations-Fähigkeit. Qiao gehört zu den Charakteren von Frauen, die sich ihrer Umgebung entfremdet haben und sich auf ihre Verbundenheit mit anderen Menschen, auch ihren Freunden, nicht mehr verlassen können. Aber über die Deutung als Verlust geht Jia Zhangke weit hinaus. Es geht um einen Prozess der Wiederherstellung, in dem über genuin filmische Bilder neue Formen der Subjektivität und des Lebens entstehen.

DIE FRAU BESETZT DAS ZENTRUM

Denn neben dem politisch bedingten Pessimismus lässt sich der Film auch optimistisch lesen: als Geburt eines neuen weiblichen Subjekts von Gesellschaftsgestaltung und Geschichte. Zhao Tao füllt die Rolle der Qiao mit einer geradezu wahnwitzigen Wandlungsfähigkeit aus, sie hält den Film mit Kraft, Zähigkeit und absoluter Präsenz in jeder Szene zusammen. Sie ist in allen Teilen und Zwischenspielen des Films eine andere. Nach ihrem Gefängnisaufenthalt reist sie durch ein China über das der Kapitalismus mit unvorstellbarer Geschwindigkeit gekommen ist. Sie reist durch die Höhen und Tiefen ihrer eigenen Geschichte wie durch die politischen Umdeutungen ihres Landes. Vor allem aber reist sie auch durch dessen Landschaften: Auf dem Weg zu Binh besteigt sie ein Schiff, das sie den Jangtse entlang transportiert, auch durch die Schluchten, die der Staudamm noch nicht unter Fluten begraben hat. Jia Zhangke besichtigt nicht nur in diesem Film gewissermaßen ein Land, das bald untergehen wird, bevor es neue Archipele aus dem Wasser spuckt. „Asche ist reines Weiß“ ist eine große Erzählung über die jüngere Geschichte Chinas, und dass es Jia Zhangke versteht, sie auf geradezu unberechenbare Weise zwischen Triaden-Epos, Reisebericht und Tagebuch einer unglücklichen Liebe hin- und herschwingen zu lassen, macht sie nur umso wahrhaftiger.

QUELLEN- UND WEITERFÜHRENDE LITERATUR

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Fröhlich, Margrit: Jia Zhangke. In: Made in China : das aktuelle chinesische Kino im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche/ Margrit Fröhlich … (Hrsg.). Marburg: Schüren, 2009, S. 193-208. (Arnoldshainer Filmgespräche ; 26)

Han, Peiqi: Soziale Ausgrenzung in den Dokufiktionen des chinesischen Regisseurs Jia Zhang-Ke Baden-Baden: Nomos, 2016

Hartmann, Britta; Wulff, Hans-Jürgen: Alice in den Spiegeln: vom Begehen und Konstruieren diegetischer Welten. Kiel: Universitätsbibliothek, 2015. (Online-Ressource)

Jullien, Francois: Von Landschaft leben oder das Ungedachte der Vernunft. Berlin: Matthies & Seitz, 20016

Jullien, Francois: Der Umweg über China: ein Ortswechsel des Denkens. Berlin: Merve-Verl., 2002. (Merve ; 244)

Kilb, Andreas: Eine chinesische Erziehung des Herzens. In: FAZ Online. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. März 2019

Küffner, Marina: Der Long Take als unterstützendes Element der Kapitalismuskritik in den Filmen von Jia Zhangke. München: Grin-Verl., 2019

Mello, Cecilia: The cinema of Jia Zhangke: realism and memory in Chinese films. London [u.a.]: Bloomsbury, 2019

Miksch, Cyrill: Oberflächen bei Jia Zhangke. In: Holl, Ute [u.a.] (Hrsg.) Oberflächen und Interfaces: Ästhetik und Politik filmischer Bilder. Paderborn: Fink, 2018, S. 277-294

Schultz, Corey Kate: Moving figures: class and feeling in the films of Jia Zhangke. Edinburgh: Univ. Pr., 2018

Wang, Xiaping: China in the age of global capitalism: Jia Zhangke’s filmic world. London: Routledge, 2020

Zhangke, Jia: „Das Erfundene ist Teil des Authentischen“: Interviews mit Jia Zhangke. In: Platzen, Maik [u.a.] (Hrsg.): Peking-Express: das junge Kino aus China. Marburg: Schüren, 2009, S. 167-190

Zhangke, Jia: „Je älter wir werden, desto weiter entfernen wir uns von der Heimat“. Spiegel-Online vom 13.3.2010. Interview mit Dunja Bialas (Online-Ressource)

Zizek, Slovoj: Geschichte und die sexuelle Nicht-Beziehung: einige Überlegungen zu Jia Zhangke . In: Stiegler, Bernd [u.a.] (Hrsg.): Maoismus. Marburg: Schüren, [Mai 2018], S. 113-188 (Augenblicke, 71)

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