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Musik, Malerei, Sprache und Literatur im Film „Frantz“ von Francois Ozon (Brigitte Anthes-Kettler)

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk vom 01.10.2016 1) äußert sich François Ozon zu seiner ersten deutsch-französischen Koproduktion. Für seinen Film „Frantz“ ließ er sich inspirieren vom Theaterstück „L‘homme que j’ai tué“ (1920) von Maurice Rostand, das auch Ernst Lubitsch für seinen Film “A Broken Lullaby“ (Der Mann, den sein Gewissen trieb) von 1932 zum Vorbild nahm. Beiden ging es darum zu zeigen, dass Deutschland und Frankreich im Grunde Brudervölker sind, und Ozon meint, dass diese Verbindung vor allem über die Kultur stattfindet: „Deswegen ist die Musik so wichtig, wenn Geige gespielt wird, wenn es um Chopin geht oder das Gemälde von Manet oder die Poesie von Rilke und von Verlaine.“ Ozon trifft eine bewusste Auswahl an Kunstwerken, um mit ihrer Hilfe den Zustand der beiden Völker nach dem 1. Weltkrieg und den seiner Protagonisten im Film darzustellen.

1. Source – Musik (diegetische Musik)2)

a) Klassische Musik

Ozon wählt hier Stücke aus der romantischen Musiktradition des 19. Jahrhunderts aus (Chopin, Debussy, Tschaikowski, und Rimski-Korsakow in der Opernszene aus Scheherazade). Sie wurden sowohl im deutschen wie im französischen Bildungsbürgertum geliebt und heben im Film auch die Zugehörigkeit der Familien Hoffmeister und Rivoire zu dieser Gruppe hervor. Adrien (Geige) und Anna (Klavier) beherrschen diese Stücke auf ihren Instrumenten und spielen sie im Film in ihren Familien vor.

Kernstück und bestimmend für die Musik im Film ist Chopins „Nocturne Nr. 20 in cis-moll“ von 1827. (Sie wird bis heute in Filmen, in der Popmusik und in Videospielen verwendet.) Mit seinem schwermütigen und schmerzlichen, gleichzeitig aber träumerischen Charakter bestimmt es die Atmosphäre von großen Teilen des Films. Die Musik ruft in den Hauptfiguren wieder die emotionale Betroffenheit hervor, die sie als Trauer und Verzweiflung bei ihren tragischen Erlebnissen empfunden haben. So muss Adrien sein Spiel auf Frantz‘ Geige im Haus der Hoffmeisters unterbrechen und bricht zusammen, und Anna kann im Haus der Rivoires die Klavierbegleitung bei Debussys Gesangsstück „Nuit d’étoiles“ (1880) nicht zu Ende führen. Sie bricht mit einem Misston ab und verlässt den Raum. Debussys Komposition begleitet mit ihrem schwebenden, melancholischen Klang die Worte des Gedichts von Théodore den Banville, ebenfalls ein „Nachtstück“, das von „l’amours défunts“ spricht. Anna wird vom Schmerz über ihre „gestorbene“, vergangene und vergebliche Liebe zu Adrien überwältigt.

Während der langen Krankheit nach ihrem Selbstmordversuch träumt Anna, dass Frantz, vom Krieg schwer verletzt, nach Hause gekommen ist und seinen Eltern die „Nocturne“ von Chopin auf der Geige vorspielt.

Der Film zeigt ein weiteres Fantasiebild Annas, das sie den Hoffmeisters vermittelt, als sie vortäuscht, ihnen einen Brief Adriens aus Paris vorzulesen. Hier spielt Adrien als Mitglied seines Streichquartetts ein Stück von Tschaikowski (Quartett für Streicher Nr.1, op. 11, 2.Satz Andante cantabile).

b) Musik zur Verortung des Filmgeschehens in Geographie und Geschichte (Hymnen, Genre-Musik)

Um die Situation in Deutschland und Frankreich und den Antagonismus der beiden Völker zu verdeutlichen (Deutschland hat den Krieg verloren, die größten Zerstörungen gab es aber in Frankreich, auf dessen Boden der Krieg stattfand), lässt Ozon in der deutschen Gastwirtschaft die Männer des Stammtisches die „Wacht am Rhein“ singen, und im Pariser Bistro die Gäste bei Eintritt von Offizieren die Marseillaise. Alle erheben sich und singen voller Inbrunst, Stolz und Ressentiment. Adrien ist erschrockener Zeuge in Quedlinburg, und Anna betrachtet die Szene im Bistro. Hier werden die Nationalismen gespiegelt, die in den Hymnen bzw. Kampfliedern zum Ausdruck kommen, unterstützt durch den Marschrhythmus in beiden.

Die „Wacht am Rhein“, 1840 von Max Schneckenburger komponiert, hatte die Funktion einer inoffiziellen Nationalhymne im Kaiserreich. Sie entstand als Reaktion auf die Forderung der französischen Regierung, den Rhein als Frankreichs Ostgrenze zu etablieren und wurde bei der offiziellen Siegesfeier nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 in der Berliner Hofoper aufgeführt, nachdem Frankreich Elsass-Lothringen aufgeben musste. Der martialische Text richtet sich wörtlich gegen Frankreich, und in der Filmszene richtet er sich gegen Adrien und Hoffmeister, der in diesem Kreis die Schuld am Tod seines Sohnes eingestanden hat.

Die Marseillaise wurde 1792 verfasst und nannte sich zunächst „Chant de guerre pour l’armée du Rhin“. Sie erhielt den Namen „Marseillaise“, weil sie von Soldaten aus Marseille beim Einzug in Paris gesungen wurde. Sie wurde am 14. Juli 1795 zur französischen Nationalhymne erklärt. Ihr blutrünstiger Text richtet sich nicht gegen ein einzelnes Land, sondern gegen jeden Angreifer, der Frankreich niederzwingen will.

Das Deutschlandlied verfasste Hoffmann von Fallersleben 1841 auch aus Anlass französischer Gebietsansprüche auf das Rheinland. Sein getragener Rhythmus zur Melodie von Haydns „Gott erhalte Franz den Kaiser“ und sein gemäßigter Text eignen sich jedoch nicht für den Ausdruck des Hasses und des Ressentiments im Film. Auch der Filmkomponist Max Steiner verwendet die Marseillaise und die „Wacht am Rhein“ in seinem Film „Casablanca“ in einem Gesangswettbewerb deutscher Soldaten mit den Emigranten in Rick’s Café. Wegen des gleichen Rhythmus konnte er sie zu einem Quodlibet (scherzhafte Zusammenstellung verschiedener Melodien und Texte) verbinden.

Zur Unterstreichung des Lokalkolorits lässt Ozon im Bereich der diegetischen Musik zu Anfang des Films eine Musikkapelle durch Quedlinburg ziehen, als Anna dort den Markt besucht. Sie spielt die „Wacht am Rhein“. Auf dem Fest tanzen eine Volkstanzgruppe und dann auch Adrien und Anna zu ländlicher Musik im Polka - Rhythmus (Braunschweig-Polka, Hüpf-Polka, Frantz-Polka). Als die Kapelle den Walzer „Über den Wellen“ von Rosas spielt, fordert Anna Adrien zum Tanz auf - im Bereich des Films ist Walzermusik meist mit Liebe assoziiert.3)

2. Score (nicht-diegetische Filmmusik)4) von Philippe Rombi

Der Komponist der Musik zum Film „Frantz“ ist Philippe Rombi (*3.April 1968 in Pau, Frankreich) 5)

Er studierte Klavier, Dirigieren und Komposition in Marseille und Paris. Nachdem er die Kompositionen von John Williams, z.B. zum Film „Star Wars“ für sich entdeckt hatte, spezialisierte er sich auf das Schreiben von Filmmusik. Mit François Ozon hat er seit 1999 in 12 Filmen zusammengearbeitet, u.a. in „Swimming Pool“. Er schrieb auch die Musik zu Filmen von Dany Boon, z.B. zu „Willkommen bei den Sch’tis“. Er komponiert und arrangiert, dirigiert das Orchester ( in „Frantz“ das L’Orchestre Symphonique Bel’Arte), und spielt selbst die Klavierpassagen.

Für den Film „Frantz“ fuhr er zu den Dreharbeiten an der polnischen Grenze, um dort die Atmosphäre und die Emotionen einzufangen. Er begleitete seine Frau, die den Darsteller von Adrien – Pierre Niney – im Geigenspielen unterrichtete und besuchte auch den Friedhof von Görlitz, der als Schauplatz einiger Szenen dient. Anhand des Drehbuchs von Ozon machte Rombi einen ersten Entwurf, den er dann mit den Bildern abglich, die bei den Dreharbeiten entstanden. Hier betont er besonders die Atmosphäre, der Klang der deutschen Sprache, das Schwarz und Weiß, der Rhythmus der Kamera.6)

Rombis Musik zu „Frantz“ ist rein symphonisch (Klavier, Geige und weitere Streicher des Orchesters) ohne Verwendung elektronischer Elemente. Ozon hatte ihn gebeten, einen Score im Geist von Mahler und Debussy zu schreiben. Die romantische Ästhetik des 19. Jahrhunderts vertritt die Idee des Gesamtkunstwerks, der Integration verschiedener Künste, ein Gedanke, der dem Musikdrama, aber besonders auch der Filmkunst in der Übereinstimmung von Wort, Bild und Musik zu Grunde liegt.7) Die Spätromantiker schrieben teilweise selbst noch Filmmusik (Prokofjew, Copland, Korngold). Die Stilistik der Romantik wird in der Filmmusik auch weiterhin bevorzugt für ihre „unmittelbare Ausdruckswirkung, die Parallelen zwischen menschlichen Grundgefühlen und einer entsprechenden musikalischen Darstellung“ 8) erlaubt.

Rombi hatte für Ozon die Arrangements der klassischen Stücke geschrieben, und es war von Anfang an klar, dass die Ästhetik des „Nocturne“ von Chopin bestimmend sein sollte. Es gibt daher im Score kein Hauptthema, das von Anfang an gespielt wird. Es findet auch kein Underscoring (ständige Musikbegleitung) statt, viele Passagen des Films sind ganz ohne Musik. Rombi benutzt die Mood – Technique 9) , bei der er Filmsequenzen mit musikalischen Bildern unterlegt, die ihr einen Stimmungsausdruck hinzufügen und das Publikum mitfühlen lassen.

Ozon und Rombi haben „entschieden, dass von Beginn des Films an eine Strenge und Einfachheit sowohl in der Inszenierung als auch im Gebrauch der Musik sein soll, sehr wenig präsent und diskret, die mit den dramatischen Entwicklungen und einer leichten Spannung spielt“ 10) . Rombi sagt zwar, dass er einzelne Themen den Personen von Adrien und Anna und ihrer Entwicklung zuordnet, das geschieht jedoch sehr dezent. Als Leitmotive sind sie kaum erkennbar. Das Adrien zugeordnete Thema „Les tourments“ (Nr.5) gespielt mit Moll – Akkorden der Streicher, ist ziemlich langsam und diffus, mit drei chromatischen und klagenden Noten. Sie sind nicht als eine wirkliche Melodie zu definieren. Annas Thema, mit helleren Streichern, meditativ und melodischer, lässt sich z.B. in Nr. 10 „La lettre de Frantz“ heraushören. Nr. 12 „Paris“ und Nr. 13 „Les retrouvailles“ sind rhythmischer und beschwingter (Geräusche des Zuges, Musettewalzer klingen an) und begleiten Annas Reise nach Paris und ihre Ermittlungen dort. Nr.2 „Une amitié“, mit Geige und Klavier eher melodiös und fröhlich, begleitet die Erzählung Adriens von seiner angeblichen Begegnung und Freundschaft mit Frantz in Paris. Im Bild erscheinen ihr Besuch im Louvre und in einem Tanzlokal. Dort wird die Score- Musik kontrapunktisch eingesetzt, also das Thema fortgesetzt, obwohl sie zu einer rhythmisch vollständig anderen, damals modernen Musik tanzen, die man nicht hört. Das unterstreicht die Irrealität der Erzählung. Die Melodie von „Une amitié“ wird auch bei Nr. 4 „La leçon de violon“ vom ganzen Orchester gespielt, als Adrien von seinem Geigenunterricht für Frantz erzählt. Man sieht, dass die Bewegung des Geigers nicht mit der Melodie übereinstimmt, und dieser kontrapunktische Einsatz unterstreicht hier wieder die Traumhaftigkeit des Geschehens.

Die Tracklist entspricht nicht unbedingt der Reihenfolge des Auftretens der Titel im Film. Etliche Themen werden oft nur in einzelnen Akkorden angespielt und wiederholen sich in vielen Szenen des Films, z.B. auch in ihrer syntaktischen Funktion 11) der akustischen Verklammerung von Sequenzen. Dunkle Akkorde der Streicher begleiten Adrien nach der Auseinandersetzung mit dem Betrunkenen auf dem Weg ins Hotel und dann weiter in seinem Zimmer, als er einen Brief an Anna schreiben will. Die düstere Stimmung wird hier von einer Szene in die andere mitgenommen, als Adrien die Unmöglichkeit seiner Situation in Quedlinburg klar wird.

Die Score-Musik begleitet die Personen durch die Handlung, jedoch nicht ununterbrochen, sondern sie zeigt in bestimmten Situationen auf sehr zurückhaltende Art ihren mentalen Zustand, ihre Qualen, ihre Beklemmung oder auch Erleichterung. Aus der romantischen Tonalität bricht sie nur an zwei Stellen aus: Ganz zu Anfang des Films, als die Kamera sich auf das Panorama Quedlinburgs richtet, ertönt plötzlich ein chromatischer Klavierakkord, als Cluster gleichzeitig angeschlagen, der etwas Bedrohliches anzukündigen scheint. Dieser wird drei Mal wiederholt, als Anna ins Wasser geht, um sich umzubringen.

Gegen Ende des Films hellt sich die Musik auf, als Anna ihren Weg in ein eigenständiges Leben zu finden scheint. Nr. 15 „Le suicidé“, als sie im Louvre neben einem, Adrien sehr ähnlichen jungen Mann sitzt, beginnt zwar mit den dunklen Klängen von „Les tourments“, wird dann aber von hohen Streichern aufgehellt, die das Chopin – Thema noch einmal in positiver Stimmung aufgreifen.

Im Zusammenhang kann man den Soundtrack von Philippe Rombi im Abspann genießen.

Tracklist12)

1. Chanson d'Automne (poème de Verlaine) 
2. Une amitié 
3. La Promenade
4. La leçon de violon 
5. Les tourments 
6. Nocturne N°20 en do dièse mineur op. posthume (Chopin)
7. La tranchée 
8. Le secret
9. Le départ d'Adrien
10. La lettre de Frantz 
11. Quatuor à cordes N°1 op.11 II Andante Cantabile (Tchaïkovski) 
12. Paris 
13. Les retrouvailles 
14. Nuit d'étoiles
15. Le suicidé

3. Die Gemälde von Caspar David Friedrich und Édouard Manet

Bei der Darstellung der deutschen Schauplätze assoziiert François Ozon Gemälde von Caspar David Friedrich 13) , sowohl was die Farbgebung als auch was die Bildkomposition betrifft. Die Szenen, die Ozon farbig erscheinen lässt, wie z.B. den Spaziergang von Adrien und Anna im Harz, enthalten eher zarte Farbabstufungen und sind auch kennzeichnend für die Sepiamalerei Friedrichs. Dabei wird der bräunlich-schwarze Farbstoff des Tintenfischs benutzt, um besonders feine Farbübergänge und Stimmungen zu erzeugen.

Die erste Einstellung des Films zeigt ein Panoramabild von Quedlinburg in einer Bildkomposition, wie Friedrich sie für seine Städtebilder von Greifswald und Neubrandenburg verwendet hat.

Die Szenerie beim Spaziergang von Adrien und Anna erinnert an Landschaftsbilder von Friedrich, besonders in der Szene, in der beide, in der Mitte des Bildes, uns den Rücken zuwenden und in die Landschaft schauen. Diese Rückenfiguren14) , wie z.B. in Friedrichs „Mondaufgang am Meer“, zwingen den Zuschauer ins Bild hinein, er betrachtet gleichzeitig mit den Protagonisten die Landschaft und identifiziert sich mit ihnen.

Während Adriens Vorspiel der „Nocturne“ ( in Farbe) bei den Hoffmeisters schwenkt die Kamera langsam nach links und nimmt mit ihm ein Bild an der Wand in den Blick, eine romantische Gebirgsszene im Stil von Friedrich.

Die Anklänge an Friedrichs Malerei im Film stellen den Bezug zu diesem Teil Deutschlands nach dem 1. Weltkrieg in mehrfacher Hinsicht her 15) . Die Kunst von Friedrich als bekanntestem Maler der deutschen Frühromantik erlebte vor dem 1. Weltkrieg auch eine Anerkennung als politisches Bekenntnis. Friedrich galt als „Maler des Nordens“, der die Natur in Erhabenheit und Melancholie darstellte, im Unterschied zum Klassizismus des Südens. Er fand seine Motive überwiegend in Nord- und Mitteldeutschland, z.B. auch im Harz. Politisch war er nach dem Sieg von Napoleon 1806 Anhänger einer nationalen Befreiungsbewegung und steigerte sich in einen chauvinistischen Franzosenhass. Er selbst litt Zeit seines Lebens häufig unter Depressionen und unternahm auch einen Selbstmordversuch. Seine romantischen Darstellungen von Landschaften im Mondschein, abgestorbenen Bäumen, Ruinen, Friedhöfen und Gedichte mit Todesallegorien entspringen dieser melancholischen Grundhaltung, die auch den ersten Teil des Films bestimmt. Ganz im Sinne der romantischen Forderung nach einer Einheit der Kunstgattungen wünschte er sich 1835, dass seine Bilder zusammen mit Musik präsentiert und angeschaut werden sollten.16)

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckten die Maler des Realismus und des Symbolismus die Konzepte Friedrichs für sich, vor allem die Bilder „Der Mönch am Meer“, „Die Abtei im Eichwald“ und „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ beeinflussten sie. Zu ihnen gehörte Gustave Courbet, ein Zeitgenosse von Manet. In Rostands Theaterstück ist von einem Bild von Courbet die Rede. Ozon erschien dessen Darstellung eines Toten jedoch als zu romantisch. Deshalb entschied er sich für das unbekannte Bild von Manet „Le suicidé“.17) Manet ist mit Courbet einer der ersten, die sich gegen die Konventionen der Académie und der École des Beaux – Arts wandten. Er war Vorbild für viele Impressionisten, blieb jedoch eher bei einer flächigen Malweise.18) Für Ozon ist sein Bild „Der Selbstmörder“ ein Leitmotiv und Symbol für seine Filmgeschichte in „Frantz“.19) Es ist in seiner starken, modernen und frontalen Malweise eine Metapher für die Verzweiflung, die Todessehnsucht einer ganzen Generation von jungen europäischen Männern – und in der letzten Szene auch für ihre Überwindung. Das Bild entstand zwischen 1877 und 1881 und ist wesentlich kleiner als es im Film dargestellt wird (38cm x 46 cm). Es zeigt einen Mann, der nach seinem Suizid mit blutverschmiertem Hemd auf einem Bett liegt. Es hing niemals im Louvre sondern gehört zur Sammlung Bührle in Zürich. Im Umfeld Manets hatten sich zwei reale Suizide ereignet, u.a. der eines jungen Mannes, der sich nach der Ablehnung seiner Werke im Salon de Paris erschossen hatte. Manet hat sich in seinem Werk mehrfach mit dem Tod auseinandergesetzt.

Eduard Manet - Le Suicidé (ca. 1877)

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%C3%89douard_Manet_-_Le_Suicid%C3%A9_(ca._1877).jpg

Im Film setzt Ozon das Bild vier Mal ein, zunächst, ohne es zu zeigen, in der Szene, in der Adrien von seinem (erfundenen) Ausflug mit Frantz in den Louvre erzählt. Er spricht vom „Bild eines jungen Mannes mit dem Kopf nach hinten“, sodass man nicht auf den Selbstmord als Sujet schließen kann. Es wird auch nicht in der (fantasierten) Rückblende zu diesem Ausflug gezeigt.

Wir sehen es erst bei Annas erstem Besuch im Louvre kurz nach ihrer Ankunft in Paris. Die Szene (in Schwarzweiß) zeigt, wie Anna von hinten auf eine Gruppe von Menschen zugeht, die sich vor dem Bild versammelt hat, sich ihren Weg nach vorne bahnt und sichtlich entsetzt ist, als sie das Gemälde mit seinem Titel „Le suicidé“ sieht. Das hatte sie nicht erwartet.

Betroffen ist sie auch, als sie ihr Gästezimmer im Haus der Rivoires betritt – es ist Adriens Zimmer – und dort das Bild im kleinen Format an der Wand hängt. In einem Interview sagt Ozon: „ 'Der Selbstmörder' “ ist unglaublich modern. Nachdem ich es in Schwarzweiß gezeigt hatte, wollte ich es in seiner Farbenpracht präsentieren, vor allem das Rot des Bluts, das das weiße Hemd des Selbstmörders befleckt hat. Plötzlich nimmt das Bild seine ganze Kraft an und erinnert uns schlagartig an das Drama, das sich abgespielt hat, an Frantz und Adrien. Und an die … Nachkriegszeit mit zwei Millionen Toten in Frankreich und drei Millionen in Deutschland: an die Überlebenden, die verstümmelt, erschüttert und mit Selbstmordgedanken zurückgekommen sind.“20)

Anna und Adrien haben beide ihren Selbstmordversuch überlebt, und Anna gelingt es in ihrer Zeit in Paris, sich von ihrer Liebe zu Adrien zu lösen und ein selbständiges Leben zu beginnen. In der letzten Szene des Films geht sie noch einmal in den Louvre, diesmal beschwingt und modisch gekleidet. Vor dem Bild sitzt ein junger Mann, der Adrien ganz ähnlichsieht. Er fragt: Mögen Sie dieses Bild auch?“, und sie antwortet mit einem Paradox: „Ja, es gibt mir Lust zu leben.“ War die Szene vorher in Schwarzweiß, so erscheint Manets Bild bei diesem Satz in seiner ganzen Farbigkeit. Anna erkennt, dass Verlust, Verzweiflung und das Gefühl von Ausweglosigkeit hinter ihr liegen. Sie kann ihre Erlebnisse jetzt wie in einem Bild aus der Distanz betrachten und weiterleben.

4. Sprache und Literatur

Neben Musik und Malerei spielen auch Sprache und Literatur eine bedeutende Rolle für diesen deutsch-französischen Film. Die französische Sprache ist das Bindeglied zwischen Adrien, Frantz und Anna. Frantz hat in Paris studiert und bezeichnet alle Franzosen als seine Brüder. In seinem letzten Brief von der Front bedauert er, dass deutsche und französische Kinder die Sprache der anderen lernen, nur um sich dann als Soldaten im Krieg gegenseitig zu töten. Er ist Pazifist wie Adrien. Auch Anna beherrscht Französisch perfekt, es war die Geheimsprache der Verlobten, wenn ihre Eltern sie nicht verstehen sollten. Beide liebten sie die Gedichte von Verlaine, besonders das „Chanson d’automne“, das Anna für Adrien rezitiert. Wie das Gedicht “La nuit d’étoiles“ von Banville, das Fanny in der Vertonung von Debussy am Ende des Films singt, handelt auch das Herbstlied von der Sehnsucht nach vergangenen Zeiten. Seine „musikalischen“ Bilder beschreiben den Herbst, Frantz‘ Lieblings – Jahreszeit, den stürmischen Wind, die toten Blätter, die langen Seufzer der Violinen (s. Nocturne von Chopin) und Annas Trauer und Getriebenheit. Sie erholt sich von der Krankheit nach ihrem Selbstmordversuch, als sie den Band mit Gedichten von Verlaine erhält. Das „Herbstlied“ kennt bis heute jeder Franzose, es wurde mehrfach vertont und am 6. Juni 1944 von der BBC gesendet, als literarisch verschlüsselte Botschaft an die Résistance, um die Landung der alliierten Truppen in der Normandie anzukündigen.

Verlaine (1844-96) war ein führender Lyriker des Symbolismus, führte ein ausschweifendes Leben, war gleichzeitig verheiratet und homosexuell, saß wegen versuchten Mordes an Rimbaud zwei Jahre im Gefängnis und war häufig depressiv und suizidgefährdet. Rilke, Annas Lieblingsdichter, hat ihn ins Deutsche übersetzt.

Adrien kann zwar Deutsch sprechen, aber Anna Französisch umso besser, und wenn die beiden allein zusammen sind, sprechen sie seine Sprache. Vor dem Film „Frantz“ das in Frankreich ähnlich klingt wie „France“, hat Ozon noch nie in einer anderen Sprache (hier zweisprachig), mit deutschen Schauspielern und außerhalb Frankreichs gedreht.21) Deutschland war das erste Land, das er als Kind kennenlernte und seine Sprache, Geschichte und Kultur faszinieren ihn immer noch. Er findet, dass das Deutsche, in diesem Film von ausgewählten Schauspielern gesprochen, einen ähnlichen Rhythmus hat wie das Französische und nicht an die Sprache der Nazis erinnert, wie so oft in ausländischen Filmen. Er wollte die Folgen des 1. Weltkriegs aus der Sicht der Verlierer schildern, um dem immer wieder aufkommenden Nationalismus etwas entgegenzusetzen.22)

Anhang: Liedtexte

Chanson d‘automne ( Paul Verlaine, 1866)

Les sanglots Longs
Des violons 
De l'automne
Blessent mon Coeur
D' une langueur
Monotone.
Tout suffocant
Et blême, quand
Sonne l‘ heure,
Je me souviens
Des jours anciens
Et je pleure.
Et je m'en vais
Au vent mauvais
Qui m' emporte
De cà, delà,
Pareil à la
Feuille morte.

Als Verstehenshilfe wörtlich übersetzt von Gert Pinkernell: (Wikipedia)

Die langen Schluchzer
der Geigen
des Herbstes
verwunden mein Herz
mit einer monotonen
Wehmut.
Ganz erstickend
und bleich, wenn
die Stunde schlägt,
erinnere ich mich
der einstigen Tage,
und ich weine.
Und ich gehe fort
mit dem bösen Wind,
der mich davonträgt,
hierhin, dorthin,
ähnlich dem
welken Blatt.

Nuit d'étoiles (Debussy, 1876, Gedicht von Théodore de Banville)

Nuit d'étoiles, 
Sous tes voiles, 
Sous ta brise et tes parfums, 
Triste lyre 
Qui soupire, 
Je rêve aux amours défunts. 
La seriene Mélancolie 
Vient éclore au fond de mon cœur, 
Et j'entends l'âme de ma mie 
Tressallir dans le bois rêveur. 
Nuit d'étoiles, 
Sous tes voiles, 
Sous ta brise et tes parfums, 
Triste lyre 
Qui soupire, 
Je rêve aux amours défunts. 
Je revois à notre fontaine 
Tes regards bleus comme les cieux; 
Cette rose, c'est ton haleine, 
Et ces étoiles sont tes yeux. 
Nuit d'étoiles, 
Sous tes voiles, 
Sous ta brise et tes parfums, 
Triste lyre 
Qui soupire, 
Je rêve aux amours défunts. 

Sternennacht

Aus „Stalactites“ Théodore de Banville

Sternennacht, unter deinen Schleiern,
Unter deinen duftigen Brisen
Mit trauriger seufzender Leier
Träume ich von gegangener Liebe. 
In den Tiefen meines Herzen,
Wo meine Wehmut liegt,
Höre ich die Seele meiner Geliebte
Sich im träumenden Wald bewegen. 
Im Schatten einer Laube,
Wenn ich nur leise seufze
Kehrst du zurück, du arme erweckten Seele,
Im blassen Leichentuch gehüllt. 
Am unseren Brunnen siehe ich erneut
Deinen Glanz so blau wie der Himmel;
Diese Rose, sie ist dein Atmen
Und diese Sterne sind deine Augen. (Übersetzung: © David Paley (Wikipedia)

Literaturverzeichnis

Kloppenburg, Hans (Hg.), Das Handbuch der Filmmusik, Laaber 2012

de la Motte-Haber, Helga / Emons, Hans, Filmmusik, München Wien 1980

de la Motte-Haber, Helga, Handbuch der Musikpsychologie, Laaber, 2. Aufl. 1996

Debussy, Claude, Nuit d ètoiles, 1880

Verlaine, Paul, Chanson d’automne, aus Poémes saturniens, 1866

Basirico, Benoit, Frantz – la BO, Tracklist et propos de Philippe Rombi et Francois Ozon, recueillis dans le cadre d’une rencontre organisèe par la salle Les Fauvettes (Paris). cinezik.org, vom 02.09.2016

Grillet, Anna, „Frantz“- Oder die tiefere Wahrheit der Lüge, kulturport.de am 29.09.2016

Oron, Aryeh, Philippe Rombi, bach-cantatas.com, 30.05.2017

Stewart, Clare (BFI London Festival director), Frantz: Francois answers questions on love, war and Lubitsch, Q&A aus Anlass des BFI London Film Festivals vom 05.-16.9.2016, bfi.org.uk

Wellinski, Patrick, Ein Drama über Liebe und Vergebung, Interview mit Francois Ozon im Deutschlandfunk Kultur am 01.10.2016

Probol, Britta, Caspar David Friedrich: Poet der Landschaftsmalerei, Sendung im NDR am 29.01.2017

Die Rückenansicht in der Malerei, bei figunetik.com vom 14.09.2016

Fern zu hörende, rauschende Musik, Neue Zürcher Zeitung vom 03.06.2006

Caspar David Friedrich, aus Wikipedia

Der Selbstmörder (Manet), aus Wikipedia

Philippe Rombi, aus Wikipedia

1)
Wellinski, Patrick, Ein Drama über Liebe und Vergebung, Interview mit François Ozon im Deutschlandfunk Kultur am 01.10.2016
2)
Diese Musik ist Teil der filmischen Realität und hat eine Quelle (Source) in der Handlung (diegetische Musik), d.h. die Figuren im Film können die Musik hören.
3)
Kloppenburg, Hans (Hg.), Das Handbuch der Filmmusik, Laaber 2012, S.98
4)
Diese Musik ist eigens für den Film komponiert und wird nur vom Zuschauer des Films wahrgenommen.
5)
Aryeh Oron, Philippe Rombi, bach-cantatas.com, 30.05.2017, und Wikipedia
6)
Basirico, Benoit, Frantz-la BO, Tracklist et propos de Philippe Rombi et François Ozon, recueillis dans le cadre d’une rencontre organisèe par la salle Les Fauvettes (Paris). cinezik.org, 02.09.2016
7)
Kloppenburg, Hans, ebd., S.20
8)
De la Motte-Haber, Handbuch der Musikpsychologie, Laaber 1996, 2. Aufl., S. 35
9)
Kloppenburg, Hans, ebd., S.229
10)
Basirico, Benoit, ebd., übersetzt v. Verfasser, B. Anthes-Kettler
11)
De la Motte-Haber, Helga/Emons, Hans, Filmmusik, München Wien 1980, S.195ff
12)
Basirico, Benoit, ebd.
13)
Wellinski, Patrick, ebd
14)
Die Rückenansicht in der Malerei, figunetik.com, 14.09.2016, und Caspar David Friedrich, Wikipedia
15)
Probol, Britta, Caspar David Friedrich: Poet der Landschaftsmalerei, Sendung im NDR, 14.09.2016 und Caspar David Friedrich, Wikipedia
16)
Kloppenburg, ebd., S. 19, und Fern zu hörende, rauschende Musik, Neue Zürcher Zeitung v. 3.6.2006, anlässlich einer Ausstellung in Essen
17)
Stewart, Clare (BFI London Festival director), Frantz: François answers questions on love, war and Lubitsch, Q&A aus Anlass des BFI London Festivals vom 05.-16.9.2016, bfi.org.uk
18)
Der Selbstmörder (Manet), Wikipedia
19)
Stewart, Clare, ebd.
20)
Grillet, Anna, „Frantz“ – Oder die tiefere Wahrheit der Lüge, kulturport.de, 29.09.2016
21)
Wellinski, Patrick, ebd.
22)
Stewart, Clare, ebd.
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