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Ibuse Masuji 井伏鱒二 (1898–1993) gilt als ein bedeutender Schriftsteller der Vor- und Nachkriegszeit Japans und hat zahlreiche Kurzgeschichten, Romane und Artikel verfasst. In seinen Werken gelang es ihm, die Orientierungslosigkeit und Suche nach einer neuen Identität innerhalb der japanischen Gesellschaft einzufangen, sowohl während der teilweise rasanten Veränderungen der Meiji- und Taishô-Zeit, als auch während des abrupten Neuanfangs in der Nachkriegszeit. Zu seinen bedeutendsten Werken zählt der Roman Kuroi ame 黒い雨 (Schwarzer Regen, 1966) in welchem er sich mit dem Leiden und der Diskriminierung der hibakusha 被曝者 (Strahlenopfer) des Atombombenangriffs auf Hiroshima am 6. August 1945 auseinandersetzt.
Ibuse Masuji wurde 1898 in der Nähe der Stadt Fukuyama in der Präfektur Hiroshima geboren. Seine Familie – vor allem Bauern und Landbesitzer – lebten zu dieser Zeit bereits seit mehreren Generationen in einem Dorf namens Kamo. Obwohl Ibuse selbst das Verhältnis zu seinem Vater als distanziert beschreibt, brachte dieser ihn erstmals der Literatur näher. Sein Vater interessierte sich für chinesische Literatur und Gedichte und versuchte sich in seiner Freizeit an der Übersetzung verschiedener Werke. Seine Mutter findet in Ibuses Werken nur selten Erwähnung, aber auch die Beziehung zu ihr soll eher distanziert gewesen sein. Zum Umgang mit seinen Geschwistern ist wenig bekannt. Ibuse hatte einen älteren Bruder, eine ältere Schwester sowie einen jüngeren Bruder, welcher aber bereits kurz nach der Geburt starb.
Viel inniger war hingegen der Kontakt zu seinen Großeltern, besonders zu seinem Großvater, der nach dem frühen Tod des Vaters 1903 zu einer wichtigen Bezugsperson wurde. Er begeisterte Ibuse für japanische Literatur und die japanische Geschichte; außerdem inspirierte er ihn dazu, regelmäßig Tagebuch zu führen. Sein Großvater war nicht nur ein prägender Einfluss in der Kindheit und Jugend von Ibuse, sondern wurde zum Vorbild für die Figur des „alten Mannes“ in seinen späteren Erzählungen. Da Ibuse in frühen Jahren an einer Lungenkrankheit litt, pflegten ihn seine Großeltern und ermöglichten ihm Erholungsreisen an die Küste. Auch zu seiner Großmutter entwickelte Ibuse eine enge Bindung, weshalb ihr Tod 1907 ein schwerer Schlag für ihn war.
Bereits sehr früh wurde der junge Ibuse mit dem Tod konfrontiert, sowohl innerhalb der Familie als auch innerhalb der Dorfgemeinschaft. Diese Erfahrungen scheinen prägend für seine späteren Werke gewesen zu sein, denn der Tod und Verlust von wichtigen Personen sollte in diesen immer wieder zu zentralen Wendepunkten und Ereignissen des Handlungsverlaufes werden.
Nachdem seine Lungenkrankheit 1905 endgültig geheilt war, besuchte Ibuse zunächst die lokale Grundschule in seinem Heimatdorf. Über diese Zeit ist nur wenig bekannt, ein einprägsames Ereignis war jedoch ein Unfall, bei dem einer seiner Mitschüler in einem nahen Fluss ertrank. Wieder war Ibuse mit dem Tod einer nahestehenden Person konfrontiert. Nach erfolgreichem Abschluss der Grundschule bewarb er sich an einer bekannten Mittelschule in Hiroshima, fiel jedoch durch die Aufnahmeprüfung. Ein Jahr später gelang es ihm, an der Fukuyama Mittelschule aufgenommen zu werden. Sie war bereits in der Edo-Zeit unter dem Namen Makoto no kan 誠之館 (Halle der Weisheit) gegründet worden und galt seither als Elite-Schule. Der Lehrplan der Schule war westlich ausgerichtet, und beinhaltete unter anderem Unterricht in englischer Literatur, aber auch in japanischer Literatur. Während dieser Zeit entschloss sich Ibuse erstmals, Schriftsteller zu werden. Gleichzeitig wurde ein hoher Wert auf Malerei und Zeichnen gelegt und so erhielt Ibuse auch darin eine Ausbildung. Er entwickelte während seiner Schulzeit ein gewisses Interesse am Zeichnen und sollte in den nächsten Jahren immer wieder mit dem Gedanken spielen, Zeichner statt Schriftsteller zu werden.
Während sich Ibuse für die Inhalte begeistern konnte, hatte er Schwierigkeiten im Umgang mit einigen seiner Mitschüler. So war er nur kurze Zeit im schuleigenen Wohnheim untergebracht, zog aber nach einigen Auseinandersetzungen zu Verwandten in der Nähe der Schule und besuchte von dort weiter den Unterricht. Auch die strikten Regeln der Schule setzten Ibuse zu. Er verbrachte deshalb immer wieder Phasen zu Hause und wurde dort von Privatlehrern unterrichtet. 1917 schloss er die Mittelschule erfolgreich ab.
Nach Abschluss der Mittelschule begann Ibuse zunächst eine zweimonatige Reise entlang der Küste von Hiroshima bis nach Ôsaka und weiter nach Kyôto. Unterwegs fertigte er zahlreiche Zeichnungen an und während eines Aufenthaltes in Kyôto wurde ihm vorgeschlagen, sich mit diesen bei dem damals bekannten Zeichner und Maler Hashimoto Kansetsu 橋本関雪(1883-1945) zu bewerben. Ibuse folgte diesem Rat und bewarb sich als Schüler bei Hashimoto, wurde allerdings von diesem abgewiesen. Erst dann entschloss sich Ibuse, sich der Literatur zu widmen, und so zog er 1917 nach Tôkyô, um ein Literaturstudium an der Waseda Universität zu beginnen. Tôkyô übte auf Ibuse, der aus dörflichem Umfeld stammte und den Großteil seines bisherigen Lebens dort verbracht hatte, zunächst eine unglaubliche Anziehungskraft aus – verknüpft mit Erwartungen an die Verlockungen der Großstadt. Doch diese anfängliche Euphorie schlug schnell in Ernüchterung um, denn in der Millionenstadt fühlte er sich schnell verloren und orientierungslos. Ähnlich erging es ihm auch in seinem Studium. Er belegte verschiedene Kurse und knüpfte Kontakte zu einigen der führenden Schriftsteller und Literaturwissenschaftler seiner Zeit, beispielsweise Tsubouchi Shôyô 坪内逍遥 (1859-1935), welcher sich mit der Frage befasste, wie sich die japanische Literatur an die Moderne anpassen müsse. Bereits früh lernte er auch Iwano Hômei 岩野泡鳴 (1873-1920) kennen, einen der wichtigsten Vertreter des Naturalismus in Japan, den er zwar nur wenige Male traf, aber schnell als Vorbild betrachtete. Tsubouchi und Iwano waren darüber hinaus Vertreter der shishôsetsu 私小説, Romane und Kurzgeschichten, die aus der Ich-Perspektive erzählt werden. Auch bei Ibuses späteren Werken handelte es sich häufig um shishôsetsu. Allerdings plagten Ibuse in dieser Zeit immer wieder Zweifel bezüglich der eigenen Eignung als Schriftsteller und der Richtung, welche er innerhalb des Studiums einschlagen wollte. Diese Zweifel riefen wiederholt Phasen der Lethargie hervor, in denen Ibuse seine Kurse nicht besuchte und sich stattdessen anderen Aktivitäten wie dem Zeichnen zuwendete.
Die wichtigste Konstante in dieser Zeit – und gleichsam ein Gegengewicht zu seiner Orientierungslosigkeit – stellte für Ibuse sein guter Freund und Kommilitone Aoki Nanpachi 青木南八 (?-1923) dar. Aoki befasste sich mit französischer Literatur und übersetzte einige Werke ins Japanische. Für Ibuse war er ein Vorbild und eine wichtige Stütze während des Studiums. Aoki brachte ihn dazu, häufiger anwesend zu sein, las erste Entwürfe von Ibuses frühen Werken und übte Kritik. Aokis unerwarteter Tod 1923 traf Ibuse deshalb schwer. Obwohl er nach einer halbjährigen Reise gerade dabei war, sich wieder an der Waseda Universität einzuschreiben, beschloss Ibuse daraufhin, sein Studium endgültig abzubrechen und stattdessen als Schriftsteller zu arbeiten.
Nach Aokis Tod begann Ibuse Masuji als Autor und Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften zu arbeiten. Eine wichtige Rolle spielt in dieser Zeit der Verleger Tanaka Kôtarô 田中貢太郎 (1880-1941), der ihn protegierte, Kontakte und neue Stellen vermittelte und ihn bei der Veröffentlichung seiner ersten Werke unterstützte. Sie lernten sich kurz nach dem Kantô-Erdbeben 1923 kennen. Ibuse selbst hatte das Erdbeben physisch unbeschadet überstanden, jedoch seine Unterkunft verloren. So befand er sich für einige Wochen auf Reisen, kam zunächst bei Verwandten unter und reiste dann weiter in seine alte Heimat, bevor er schließlich nach Tôkyô zurückkehrte. Kurze Zeit später traf er Tanaka und nahm seine Arbeit als Schriftsteller und Redakteur wieder auf.
In dieser Zeit veröffentlichte Ibuse mit der Unterstützung von Tanaka verschiedene Artikel und Kurzgeschichten, darunter auch einige, die er bereits während seines Studiums verfasst hatte. Eines dieser ersten Werke, die Kurzgeschichte Yûhei 幽閉 (Einkerkerung, 1923), erzählt von einem Salamander, der in einer Höhle eingesperrt ist. Um seiner einsamen Lage zu entrinnen, lockt der Salamander einen Frosch in seine Höhle und hält ihn dort gefangen. Ein weiteres wichtiges Werk aus dieser Zeit ist Koi 鯉 (Der Karpfen, 1926). In dieser Kurzgeschichte thematisiert Ibuse den Verlust seines besten Freundes. Der Protagonist Ibuse hatte von seinem Freund Aoki als Symbol ihrer Freundschaft einen Karpfen geschenkt bekommen. Da Transport und Unterbringung des Karpfens mit der Zeit und über mehrere Umzüge hinweg immer schwieriger werden, einigen sich Ibuse und Aoki darauf, den Karpfen in einem Teich neben dem Haus von Aokis Freundin auszusetzen. Ibuse betont dabei, dass der Karpfen immer ihm gehören wird, auch wenn er nun im Teich bei der Freundin untergebracht ist. Als Aoki sechs Jahre später im Sterben liegt, will Ibuse ihn besuchen und ihm einen Kaktus schenken. Da aber Aokis Freundin bereits bei ihm ist, stellt Ibuse den Kaktus vor der Tür ab und geht. Bei der Beerdigung steht der Kaktus auf Aokis Grab. In beiden Geschichten übernehmen Tiere genauso wie natürliche Orte zentrale Rollen. Eine melancholische Stimmung, verbunden mit Gefühlen der Einsamkeit bzw. Trauer, ist ein weiteres verbindendes Element beider Geschichten. Solche Element lassen sich auch in vielen anderen Werken Ibuses beobachten.
In den 1930er Jahren veröffentlichte Ibuse weitere Werke, doch das sich verändernde politische Klima hatte auch einen Einfluss auf sein Wirken. In Jon Manjirô hyôryûki ジョン万次郎漂流機 (Geschichte des Schiffsbrüchigen John Manjirô, 1937) erzählt Ibuse die Geschichte eines schiffbrüchigen Jungen, der zusammen mit einem Teil seiner Mannschaft von amerikanischen Walfängern gerettet wird. Trotz der Sprachbarriere gelingt die Kommunikation und Verständigung zwischen Manjirô und der amerikanischen Mannschaft und so reist er in die USA und lebt dort eine Zeit, bevor er über Hawaii nach Japan zurückkehrt. Die Geschichte basiert auf den Berichten von Nakahama Manjirô 中濱万次郎 (1827-1898), der im Alter von 14 Jahren Schiffbruch erlitt und von amerikanischen Seeleuten gerettet wurde. Dieses Werk ist vor allem vor seinem historischen Kontext besonders, denn in einer Zeit des aufkeimenden Nationalismus und des zunehmenden Argwohns gegenüber dem Ausland erzählt Ibuse – basierend auf historischen Vorbildern - eine Geschichte von Verständigung über Grenzen und Kulturen hinweg. Auch in anderen Werken bediente sich Ibuse des Rückgriffs auf geschichtliche Vorbilder und klassische japanische Erzählungen. So erzählt er in Sazanami gunki さざなみ軍記 (Wellen: ein Kriegstagebuch, 1938) die Geschichte des jungen Tomoakira aus dem Heike-Clan (Heike 平家, Samurai-Clan der Heian-Zeit (794-1185)), der sich unerwartet in Mitten von Kriegswirren wiederfindet und dessen Leben sich innerhalb von wenigen Monaten völlig wandelt. Auch diese Geschichte veröffentlichte Ibuse passend zu den aktuellen Ereignissen, denn nach einer Reihe von Auseinandersetzungen und Konflikten in den frühen 1930er Jahren brach im Juli 1937 der zweite Sino-Japanische Krieg aus. Ibuse schildert die Auswirkungen des Krieges, greift die Ängste der Menschen auf und verpackt diese als klassische Erzählung des Heike-Clans. Dennoch konnte er mit diesem historischen Kniff genug Distanz zu aktuellen Geschehnissen wahren, um in keinen Konflikt mit dem militaristischen Regime zu geraten.
Zwar weisen viele Geschichten melancholische Elemente und Stimmungen auf, doch Ibuse legte in seinen Werken auch viel Wert auf Humor und Ironie. So vergleicht er in Kakû dôbutsu fu 架空動物譜 (Verzeichnis fiktiver Tiere, 1933) mythologische und fiktive Tiere aus dem Westen und dem Orient und kommt dabei auf ironische Weise zu dem Schluss, dass die Wesen des Orients bei weitem überlegen sind. Ein weiteres Beispiel ist Kokki 国旗 (Die Flagge, 1934), eine Kurzgeschichte über einen Mann, der eine teure Flagge kauft, diese aber – entgegen des Brauchs – nicht zum Neujahr hisst. Als er einmal seinen Lohn nicht rechtzeitig bekommt, tauscht er die Flagge gegen einen Sack Reis ein. Die Flagge, gerade in den 1930er Jahren ein Objekt hohen ideellen Wertes und Symbol nationaler Identität, wird zu einem banalen Tauschobjekt degradiert.
In diesen und anderen Werken bezieht sich Ibuse auf nationalistisch aufgeladene Symbole und Debatten und hinterfragt durch eine ironische Auseinandersetzung, ob diese wirklich die japanische Identität ausmachen. Gleichzeitig zeigt er durch das Aufgreifen historischer Vorbilder wie Nakahama Manjirô und die Erzählung des Heike-Clans, dass die japanische Geschichte durchaus einen Gegenentwurf zur nationalistischen und japanzentrierten Ideologie jener Zeit bietet. Auf der anderen Seite spiegelt die Einsamkeit und Orientierungslosigkeit, die viele seiner frühen Werke prägen, den gesellschaftlichen Umbruch wider, der mit der Meiji-Zeit begonnen hat. Die Entwicklung zu einem modernen Staat nach westlichem Vorbild, Urbanisierung und Industrialisierung sowie kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse aus dem Westen haben für viele Menschen die Frage nach der japanischen Identität aufgeworfen. Ibuse fängt diese Orientierungslosigkeit ein und stellt in vielen Werken das japanische Dorf als traditionellen Gegenentwurf zur modernen Gesellschaft auf.
Auch nach Kriegsbeginn 1937 blieb Ibuse zunächst Schriftsteller und veröffentlichte weiterhin Werke. Zwar war Ibuse nicht direkt von Zensur betroffen, allerdings wurden seine Werke zunehmend zurückhaltender, besonders in der ironischen Auseinandersetzung mit nationalen Symbolen. 1941 wurde Ibuse in die kaiserliche Armee eingezogen. Dort diente er – im Rahmen des Malaya-Feldzuges und später in Singapur stationiert – als Kriegsberichterstatter. Die Eindrücke und Erfahrungen, die er während seiner Armee-Zeit sammelte, sollten später als Vorlagen zahlreicher Geschichten und Romane dienen. Während er in Singapur stationiert war, wurde er von Satô Haruo 佐藤春夫 (1892-1964) kontaktiert, den er aus früheren Jahren kannte. Satô unterstützte den Schriftsteller Yamamoto Sanehiko 山本実彦 (1885-1952) – der sich in der Zwischenkriegszeit um die Japanisch-Chinesischen literarischen Beziehungen bemüht hatte - bei der Suche nach dem befreundeten Dichter Yu Dafu, der zuletzt in Singapur gewesen sein sollte. Satô stellte den Kontakt zu Ibuse her, der in Erfahrung brachte, das Dafu ermordet wurde. Wenig später kehrte Ibuse überraschend nach Japan zurück. Um die Heimatfront zu stärken, wurde ein Teil der Schriftsteller in seiner und anderen Einheiten aus dem Dienst entlassen. So kehrte er 1942 nach Tôkyô zurück und veröffentlichte 1943 Berichte über zeine Zeit an der Front – in denen er jedoch nicht frei erzählen konnte, was er erlebt hatte. Doch die Zeit, in der er wieder als Schriftsteller tätig sein konnte, währte nur kurz, denn als die Bombardierungen auf Tôkyô und andere Großstädte immer intensiver wurden, wurde Ibuse aufs Land evakuiert. Diese Zeit glich einer Flucht und erinnerte ihn an seine rastlose und orientierungslose Studentenzeit. Er reiste mit seiner Familie zunächst von Kleinstadt zu Kleinstadt und schlief währenddessen teilweise in Bahnhöfen, bis er 1945 in sein Heimatdorf Kamo zurückkehrte, um dort schließlich den Rest des Krieges zu verbringen.
Nach Ende des Kriegs kehrte Ibuse nach Tôkyô zurück, doch im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern dieser Zeit hielt er sich zunächst mit der Veröffentlichung neuer Werke zurück. Sein erstes fiktives Werk nach dem Krieg war Kyôzutsu 経筒 (Sutra-Kasten, 1946), eine Kurzgeschichte über eine Dorfgemeinschaft, die über das Radio die Kapitulationsrede des Kaisers hört. Die Reaktionen der einzelnen Dorfbewohner darauf reichen von Unglaube über Verunsicherung bis hin zur Überzeugung, dass sich letztlich nichts am Leben der Menschen ändern wird. Kurze Zeit später veröffentlichte Ibuse Wabisuke 侘助 (1946), eine Kurzgeschichte über den bürokratischen Apparat der Samurai auf einer Insel. Die Beamten darin sind alle gleich und austauschbar, sie versuchen sich gegenseitig zu imitieren und zu übertreffen, um so weiter aufzusteigen. Im Kontrast dazu steht die Dorfgemeinschaft, bestehend aus Individuen mit jeweils eigenen Besonderheiten und Fähigkeiten.
Für Ibuse standen tatsächliche Erfahrungen und Erlebnisse der Menschen im Vordergrund. Auch seine eigenen Erlebnisse verarbeitete er in zahlreichen Werken. So veröffentlichte er 1950 die Kurzgeschichte Yôhai taichô 遥拝隊長 (Ehrerbietung aus der Ferne). Darin tyrannisiert ein ehemaliger Offizier - der im Krieg Kopfverletzungen erlitten hat und nun glaubt, sich noch im Krieg zu befinden - sein Heimatdorf mit Befehlen, Verhaltensanweisungen und nationalistischen Parolen. Vorbild für die Figur war ein Offizier, den Ibuse während der Überfahrt nach Malaya kennengelernt hatte. Dieser war fanatischer Nationalist und Militarist, ließ die Soldaten regelmäßig zum Fahnenappell antreten und forderte absolute Treue und Gehorsamkeit.
In anderen Werken greift Ibuse wieder Elemente aus seinen Vorkriegswerken auf, beispielsweise das des Schiffbrüchigen im Roman Hyômin Usaburô 漂民卯三郎 (Schiffbrüchiger Usaburô, 1955), verbindet aber auch diese mit Erfahrungen aus dem Krieg. Der Protagonist Usaburô erleidet zusammen mit seinem Bruder und seiner Mannschaft Schiffbruch. Ein Teil der Mannschaft wird jedoch von Walfängern aus den USA gerettet und so kommen sie zunächst nach Hawai'i. Fernab der Heimat und ihrer Familien, in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht verstehen, versuchen sie, einen Weg zurück zu finden. Währenddessen müssen sie den Verlust zahlreicher Kameraden verarbeiten, zu denen auch Usaburôs Bruder gehört. Schließlich finden sie über Alaska und Russland den Weg zurück nach Japan. Während seines Kriegseinsatzes war auch Ibuse fernab seiner Heimat in einem fremden Land stationiert und musste den Verlust zahlreicher Kameraden miterleben. Diese Erfahrungen teilte er mit vielen ehemaligen Soldaten, die während des Krieges weit weg von Japan an den verschiedenen Kriegsschauplätzen im Einsatz waren.
Für seine Werke erhielt Ibuse zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen. 1960 wurde er in die Nihon geijutsuin 日本芸術院 (Japanische Akademie der Künste) aufgenommen, eine der bedeutendsten Organisationen für Kunst in Japan. Nach fast 40 Jahren als erfolgreicher Schriftsteller überlegte Ibuse daher in den 1960er Jahren, seine Karriere zu beenden. Allerdings wollte er zuvor seine letzten offenen Projekte zum Abschluss bringen. Eines dieser Projekt war Kuroi ame, welches Ibuses bekanntestes Werk werden sollte. Darin wird episodenartig und im Stil von Tagebucheinträgen aus dem Leben von hibakusha aus Hiroshima und deren Umfeld nach dem Atombombenabwurf am 6. August 1945 berichtet. Dabei wird nicht nur die unmittelbare Zerstörung durch die Bombe geschildert, sondern auch langfristige Folgen für die Opfer dargestellt. Im Fokus stehen neben den körperliche Schäden vor allem auch die psychischen Folgen durch den Abwurf sowie die gesellschaftliche Isolation und Diskriminierung der hibakusha. So fällt es ihnen schwer, außerhalb der eigenen sozialen Gruppe Arbeitsplätze, Partner oder Freunde zu finden. Ibuse versuchte ein klares und ungetrübtes Bild von den Geschehnissen und Erlebnissen der Figuren zu zeigen. Kuroi ame ist in einem eher deskriptiven Stil verfasst, den Emotionen der Figuren wird nur selten Ausdruck verliehen. Der Roman und dessen Figuren basieren - wie üblich für Ibuses Nachkriegswerke - auf zahlreichen Berichten, Interviews, Tagebüchern und anderen Dokumenten von hibakusha. Den Kern bildeten die Tagebücher seines guten Freundes Shigematsu Shizuma 重松閑間 (Lebensdaten unbekannt), der Ibuse mehrfach gebeten hatte, sie als Grundlage eines Romans zu verwenden. Auf diese Weise sollte abseits von Zeremonien und Gedenkfeiern Aufmerksamkeit für das Leid der hibakusha geschaffen werden. Aufgrund des nüchternen Schreibstils und der zahlreichen verwendeten Vorlagen betrachtete Ibuse selbst Kuroi ame weniger als Roman, wie er bei der Dankesrede zum Erhalt des Noma bungeishô 野間文芸書 (Noma Literaturpreis) 1966 für eben dieses Werk deutlich machte:
„This work is written based on miscellaneous information picked up from newspaper clippings, doctors’ medical sheets, notes, documents, rumors heard on the grapevine, stenography, reference books, and recordings, so it is in a reportage style and cannot be called a novel in the true sense of the word. Because of this, I feel embarrassed to be receiving this Noma Prize.“ (In Ibuses schriftlichen Anmerkungen zum Noma-Preis, zitiert nach: LIN 2011, S. 24).
Nach der Veröffentlichung von Kuroi ame war Ibuse als Autor mehr denn je in aller Munde. Neben einigen weiteren Geschichten veröffentlichte er 1970 seine Autobiografie Hanseiki 半世紀 (Die erste Hälfte meines Lebens), in der er vor allem sein frühes Leben in Tôkyô und die Vorkriegsjahre schildert. 1982 beteiligte sich Ibuse - der ansonsten sehr zurückhaltend mit öffentlichen politischen Äußerungen war - zusammen mit 300 weiteren Schriftstellern an einem Aufruf, die Atomenergie abzuschaffen. In den 1980er Jahren wurden Sammelwerke seiner Geschichten veröffentlicht. Im Rahmen dessen überarbeitete Ibuse einige seiner früheren Werke. 1989 wurde schließlich Kuroi ame unter der Regie von Imamura Shôhei 今村昌平 (1926-2006) verfilmt.
In der Nachkriegszeit legte Ibuse hohen Wert auf authentische Geschichten und den Einbezug von tatsächlichen Erlebnissen und Erfahrungen von Menschen. Zwar dienten ihm dabei häufig auch seine eigenen Erfahrungen als Grundlage, doch sind es Erlebnisse, die er mit vielen anderen Menschen dieser Zeit teilte. Beispiele dafür sind die Rückkehr nach Japan vom Kriegseinsatz in Übersee, der Verlust von geliebten Menschen durch den Krieg oder die Orientierungslosigkeit in den Wirren der letzten Kriegsmonate und der frühen Nachkriegszeit. Dabei thematisierte er - wie schon in den Vorkriegswerken - die Frage nach der japanischen Identität. Nach der Niederlage im Krieg und der daraus resultierenden Abschaffung der alten Ordnung sowie der Umstrukturierung Japans zu einem demokratischen Staat entstand ein neuerlicher Umbruch und ein Identitätsvakuum, das viele Menschen orientierungslos zurückließ. Dieses Empfinden griff Ibuse in Werken wie Wabisuke auf und inszenierte das traditionelle japanische Dorf und dessen Gemeinschaft als Sehnsuchtsort. Gleichzeitig kritisiert Ibuse Elemente der neuen japanischen Identität der Nachkriegszeit. Das beste Beispiel dafür stellt Kuroi ame dar. Nach dem Ende des Krieges betonte Japan zunehmend seinen Status als einziges Opfer von Atombombenangriffen, weshalb dieser Status und die Erinnerung an die Angriffe in die neue japanische Identität einflossen - verankert durch staatstragende Zeremonien, Gedenkstätten und -veranstaltungen. Mit Kuroi ame kritisierte Ibuse, dass bei allem Zeremoniell die hibakusha als eigentliche Opfer kaum Beachtung fanden und aus weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen waren.
Insgesamt zeigt sich, dass die Suche nach der japanischen Identität und nach Orientierung in vielen Werken Ibuses eine wichtige Rolle spielen, immer vor dem Hintergrund ihres jeweiligen historischen Kontextes. Ibuse, der sich mit öffentlichen politischen Äußerungen meist zurückhielt, nutzte seine Werke als Plattform für kritische Auseinandersetzungen. In seinen Werken der Vorkriegszeit ging er dabei auf den zunehmenden Nationalismus und Militarismus sowie den drohenden Krieg ein, während er in seinen Nachkriegswerken die Orientierungslosigkeit und Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit einfing. Seine Werke - sowohl vor als auch nach dem Krieg - stehen damit symbolisch für einen großen Teil der damaligen Gesellschaft und spiegeln deren Verlust bzw. deren Suche nach einer japanischen Identität wider.
1984 ergänzte Ibuse Kuroi ame im Rahmen einer Neufassung um eine Anmerkung, in welcher er erneut die zentrale Bedeutung der zugrundeliegenden Dokumente und Tagebücher betonte. Diese Ergänzung stellte für Toyota Seishi 豊田清史 (1921), einen Dichter aus Hiroshima, das Eingeständnis eines Plagiats dar. Für Toyota waren die Tagebücher Shigematsus - mit dem auch Toyota befreundet war - in der ursprünglichen Fassung nicht deutlich genug als Ursprungsmaterial gekennzeichnet. Deshalb veröffentlichte er 1988 - entgegen des ausdrücklichen Wunsches von Shigematsus Nachfahren - die originalen Tagebücher, um so die Deckungsgleichheit zu Kuroi ame aufzuzeigen. 1993 veröffentlichte Toyota darüber hinaus zwei Bücher, in denen er ausgewählte Passagen aus Kuroi ame mit den Gegenstücken aus den Tagebüchern direkt verglich, um so seine Vorwürfe zu untermauern. Diese Vorwürfe standen mehrere Jahre im Raum, was auch daran liegen mag, dass Ibuse selbst sich bis zu seinem Tod 1993 nie direkt zu den Vorwürfen äußerte. In der heutigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Ibuses Werken gelten die Vorwürfe als widerlegt. Zum einen wird angeführt, dass Ibuse während der Entstehung und auch danach immer wieder auf die Tagebücher als Grundlage hingewiesen hat - so auch bei seiner Dankesrede. Außerdem wies er in zwei Artikeln, die er 1966 veröffentlichte, ebenfalls auf Nutzung der Tagebücher hin: am 20. August in Watakushi no kotoba 私の言葉 (Meine Worte) und am 25. September in Genbaku shôsetsu „Kuroi ame“ to Ibuse Masuji 原爆小説『黒い雨』と井伏鱒二 (Atombombenroman „Schwarzer Regen“ und Ibuse Masuji). Zudem belegt der teilweise veröffentlichte Briefverkehr zwischen Shigematsu und Ibuse, dass Ibuse die Tagebücher zunächst gar nicht benutzen wollte:
„In truth, I had been thinking of writing a novel by borrowing various episodes from your diary, but I left it unwritten because it would have been wrong to steal the material without your consent and I, myself, have no actual knowledge of what happened. I am planning to pay you a visit and return the diary.“ (Briefverkehr zwischen Ibuse und Shigematsu, zitiert nach: TREAT 1988, S.135)
Schließlich muss Ibuse zugute gehalten werden, dass es in den 1960er Jahren, der Zeit der Erstveröffentlichung von Kuroi ame, keine derart strikten Vorgaben zur Kenntlichmachung von Ausgangsmaterial gab, wie das in den 1980er Jahren der Fall war, als Toyota die Vorwürfe erstmal öffentlich erhob.
Ibuse findet in der Literaturforschung vor allem durch seine Kontakte und Verbindungen zu anderen Schriftstellern, seine langjährige Tätigkeit als Autor und dabei vor allem aufgrund seines Werkes Kuroi ame Erwähnung. Gerade im westllichsprachigen Raum gibt es jedoch kaum Monographien, die sich mit seinem Schaffen befassen. Eine Ausnahme bildet Pools of Water, Pillars of Fire (1988) von John Whittier TREAT, der hier einen guten Überblick über die zentralen Ereignisse und Umbrüche in Ibuses Leben bietet und dabei besonders deren Einfluss auf Ibuses Werke herausarbeitet. Pools of Water, Pillars of Fire ist somit zu einem der zentralen Werke in der Forschung zu Ibuse geworden. Für die Auseinandersetzung mit Ibuse sind auch die autobiographischen Werke wichtig. Neben zahlreichen Artikeln und Aufsätzen ist Hanseiki von zentraler Bedeutung, denn Ibuse bietet darin selbst einen Einblick in seine frühen Jahre und viele für seinen Werdegang prägende Ereignisse. TREAT und viele andere beziehen sich deshalb immer wieder auf diese Werke, um Schlüsselmomente in Ibuses Leben herauszuarbeiten.
Marvin KAMPHAUSEN