Autor, Nationalist
Ôkawa Shûmei 大川周明 (1886-1957) war als Islamforscher, politischer Aktivist, Lehrer und Autor eine treibende Kraft in der panasiatischen Bewegung und ultranationalistischen Expansionspolitik des Japanischen Kaiserreichs im 20. Jahrhundert.
Ôkawa wurde am 6. Dezember 1886 in der Provinz Shônai (heutige Stadt Sakata in der Präfektur Yamagata) in eine angesehene Familie geboren, welche seit mehreren Generationen Ärzte hervorgebracht hatte. Da Ôkawa sich als ältester Sohn weigerte, diese Tradition fortzusetzen, war sein Vater der letzte Arzt der Familie. In seinen späteren Jahren erinnerte er sich häufig an seine Mutter, schwieg jedoch über seinen Vater, welcher an einer Krankheit starb, als Ôkawa 28 Jahre alt war.
Ôkawa durchlief die typische Schullaufbahn eines Mitglieds der örtlichen Elite. Neben dem üblichen Lehrplan studierte er chinesische Klassiker und moderne Fremdsprachen wie Französisch und Deutsch. Nach dem Abschluss der Mittelschule in Shônai setzte er seine Schulausbildung an der Daigo kôtô gakkô 第五高等学校 in Kumamoto fort, wo er zeitweise als Vertretungslehrer im Fach klassisches Chinesisch arbeitete. Im Jahr 1907 nahm er das Studium der Religionswissenschaften mit dem Schwerpunkt auf altindische Klassiker an der Kaiserlichen Universität in Tôkyô auf und schloss es 1911 mit einem Aufsatz über den Gründer des Mahāyāna-Buddhismus ab. Danach schrieb er zwar gelegentlich Zeitschriftenartikel und fertigte Deutschübersetzungen für den militärischen Generalstab an, suchte jedoch zunächst keine feste Arbeitsstelle, um sich weiterhin als unabhängiger Wissenschaftler seiner Forschung widmen zu können. Als er 1913 auf die schlechten Umstände im kolonialisierten Indien aufmerksam wurde, engagierte er sich fortan politisch. Im Mai 1918 erhielt er schließlich eine Anstellung in der Behörde zur Untersuchung der Wirtschaft Ostasiens (Tôa keizai chôsakyoku 東亜経済調査局) der halbstaatlichen Südmandschurischen Eisenbahn AG, welche ihren Sitz in Tôkyô vor dem Kaiserpalast hatte und später in der Kriegszeit eine wichtige Rolle bei der Sammlung und Analyse von Informationen über Asien spielen sollte. Drei Jahre später wurde Ôkawa zum Professor an der Takushoku daigaku 拓殖大学 (Kolonialuniversität) in Tôkyô ernannt und 1926 an der Juristischen Fakultät der Kaiserlichen Universität in Tôkyô mit einer Dissertation über die Entstehung und Entwicklung von kolonialen Handelsgesellschaften promoviert.
In den 1920ern und frühen 1930ern plädierte Ôkawa in zahlreichen Schriften sowie Vorträgen in verschiedenen Vereinen und an prestigeträchtigen Akademien für eine „zweite Restauration“ (daini ishin 第二維新), um Japan für die Verwirklichung seines Traums von der „Großasiatischen Wohlstandssphäre“ (Daitôa kyôeiken 大東亜共栄圏) zu reformieren. Seine Beteiligung am Attentat an dem japanischen Premierminister Inukai Tsuyoshi 犬養毅 (1855-1932) am 15. Mai 1932 führte im Juni desselben Jahres zu seiner Verhaftung. Der sogenannte Go ichigo jiken 五・一五事件 (Zwischenfall 5 15) hatte die Bildung einer Regierung der „Nationalen Einheit“ unter Admiral Saitô Makoto 斎藤実 (1858-1936) und eine sukzessiven Entmachtung der politischen Parteien zur Folge. Obwohl Ôkawa zunächst zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, verbrachte er insgesamt nur 16 Monate im Gefängnis. Sein Strafregister schadete seiner Karriere jedoch keineswegs, vielmehr verbesserte es sein berufliches Ansehen. Im Oktober 1937, unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, wurde Ôkawa Dekan für Kolonialstudien an der Hôsei Universität, eine der renommiertesten Privatuniversitäten in Tôkyô, und schrieb weitere Bestseller. Er wurde als politischer Vermittler hinter den Kulissen aktiv und stand im direkten Kontakt zu mehreren Kabinettsmitgliedern - gelegentlich nahmen sogar Premierminister seine Dienste in Anspruch.
Nach der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg wurde Ôkawa als ideologischer Verantwortlicher für Japans Krieg am 12. Dezember 1945 verhaftet und ins Sugamo-Gefängnis gebracht. Nach vier Verhören war Ôkawa im März 1946 im Rahmen der Tôkyôter Strafprozesse (Tôkyô saiban 東京裁判) der einzige Zivilist, welcher als Kriegsverbrecher der Klasse A angeklagt wurde. Ôkawa schrieb Jahre später, wie überrascht er über die Anklage gewesen sei, da er während des Ausbruchs des Zweiten Sino-Japanischen Kriegs im Gefängnis gesessen und sich später nach seiner Entlassung darum bemüht habe, das brutale Vorgehen Japans in China zu unterbinden und die Beziehungen zu den USA zu normalisieren. Zum Prozessbeginn am 3. Mai 1946 machte Ôkawa mit seinem bizarren Verhalten auf sich aufmerksam. Er schlug Tôjô Hideki 東條英機 (1884-1948), welcher im Gerichtssaal in der Reihe vor ihm saß, gegen den Hinterkopf und konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, sich im Gerichtssaal zu entkleiden. Er wurde in ein Militärhospital gebracht, dort für prozessuntauglich erklärt und schließlich in eine Nervenklinik eingewiesen. Es ist bis heute umstritten, ob Ôkawa seine psychische Erkrankung vorgetäuscht hatte oder ob es tatsächlich eine Spätfolge einer Syphiliserkrankung war. Am 9. April 1947 wurde die Anklage gegen ihn fallen gelassen und nur wenige Wochen nach Ende der Kriegsverbrecherprozesse im November 1948 folgte Ôkawas Entlassung aus der Klinik.
Nach seiner Entlassung zog sich Ôkawa mit seiner Ehefrau in sein Haus in Aikawa (Präfektur Kanagawa) zurück, wo er noch viele Jahre vom amerikanischen Geheimdienst beobachtet wurde. Es bestand weiterhin der Verdacht, dass Ôkawa nicht tatsächlich psychisch erkrankt war, sondern seinen merkwürdigen Auftritt beim Strafprozess nur vorgespielt hatte, um einer Verurteilung zu entgehen. Er kritisierte zwar gelegentlich die neue Verfassung, die er als „aufgezwungen“ bezeichnete, verhielt sich jedoch ansonsten nicht auffällig. Stattdessen beschäftigte er sich mit pseudowissenschaftlichen Anbaumethoden, für die er anschließend bei einer Vortragsreise für die Rückkehr zur Agrargesellschaft durch das ländliche Japan warb, um das Land von Grund auf neu aufzubauen. In seinen letzten Jahren verfasste er unter anderem seine Autobiographie Anraku no mon 安楽の門 (Das Tor des Friedens) und stellte eine Übersetzung des Koran fertig, die bis heute als ein wichtiger Beitrag der Islamforschung in Japan gewertet wird. Am 24. Dezember 1957 starb er an den Folgen eines kardialen Asthmaanfalls.
Ôkawa interessierte sich bereits vor seinem Studium für fremde Sprachen und Religionen und bildete sich in westlicher Philosophie weiter. In Kumamoto las er als Schüler u.a. Platon (428/427-348/347 v. Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.) auf Englisch sowie Immanuel Kant (1724-1804) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) im deutschen Original. Seine späteren Ansichten über den Krieg als treibende Kraft für den Fortschritt der asiatischen Zivilisation zeugen von Hegels Einfluss auf ihn. Als Ôkawa in einer katholischen Gemeinde Französisch lernte, kam er wie viele junge Mitglieder der damaligen japanischen Mittelschicht mit dem Christentum in Berührung. Er konvertierte zwar nicht, da er die Kirche als heuchlerisch empfand, war jedoch von den universalistischen Ansprüchen des Christentums zutiefst beeindruckt. Es war vermutlich eine Folge dieser flüchtigen Begegnung mit der christlichen Religion, dass Ôkawa den Wunsch entwickelte, asiatische Werte zu entdecken und zu sammeln, die dem Universalismus des Christentums entsprachen. Während seines Studiums besuchte er Vorlesungen des bekannten Kunsthistorikers und Schriftstellers Okakura Kakuzô 岡倉覚三 (1863-1913), wodurch er erstmals eine theoretische und konkrete Grundlage für seine bereits ausgeprägte panasiatische Gesinnung erhielt. Es ist zwar umstritten, ob Okakura Kakuzô tatsächlich ein Vorreiter des japanischen Panasiatismus war, doch zumindest Ôkawa scheint ihn als solchen verstanden zu haben. In dieser Zeit trat er auch dem „Verein des Wegs“ (Dôkai 道会) des christlichen Priesters Matsumura Kaiseki 松村介石 (1859-1939) bei und veröffentlichte für dessen Zeitschrift Michi 道 (Der Weg) seine ersten Beiträge über den Islam. Die Einheit Asiens war für Ôkawa nicht nur ein politisches, sondern auch ein spirituelles Anliegen. Das kommt besonders in seiner späteren Koranübersetzung zum Ausdruck, in der Ôkawa versucht, eine Verbindung zwischen dem Islam und dem Buddhismus herzustellen. Dieser Versuch kann auf Matsumuras Einfluss zurückgeführt werden, welcher selbst ein christlich-konfuzianisches Amalgam vertrat.
Als Ôkawa, welcher bis dahin keine Anzeichen einer nationalistischen Gesinnung aufgewiesen hatte, im Frühjahr 1912 mit einer Kompilation der japanischen Kaiserbiographie betraut wurde, erwachte er eigener Aussage nach während seiner Analyse des Kojiki 古事記 (712) und Nihon shoki 日本書紀 (720) in seiner Identität als Japaner. Der Tod des Meiji Tenne 明治天皇 (1852-1912) und der darauffolgende Selbstmord von General Nogi Maresuke 乃木希典 (1849-1912) bestärkten seinen neuentdeckten Nationalismus, sodass er in der sogenannten Pflege des Yamato-Geistes die allerheiligste Aufgabe für die japanische Nation entdeckte. Eine ebenso heilige Bedeutung schrieb er der Befreiung Asiens von der westlichen Vorherrschaft zu, nachdem ihm das Buch New India des Briten Sir Henry Cotton (1845-1915) 1913 unerwartet in die Hände fiel. Er war erstaunt über die enorme Diskrepanz zwischen dem Indien, welches er in seiner Vorstellung idealisiert hatte, und dem tatsächlichen Indien, wie es in den Beschreibungen von Cotton dargestellt wurde. Ôkawa verwarf seine bisherigen Studien der klassischen Literatur und ging den Ursachen für die Missstände in Indien nach, was ihn schließlich zur Beschäftigung mit der Geschichte und Politik des europäischen Kolonialismus führte. In seiner Autobiographie erinnert sich Ôkawa, wie er sich in jener Zeit von einem Kosmopoliten (sekaijin 世界人) zu einem Asianisten (ajiajin 亜細亜人) transformierte. Auf der Suche nach Gleichgesinnten begann er, in Kreisen der nationalistischen Schwarzmeergesellschaft (Gen‘yôsha 玄洋社) von Tôyama Mitsuru 頭山満 (1855-1944) zu verkehren, deren Mitglieder als Pioniere der panasiatischen Idee gewertet werden.
Ein vereintes und befreites Asien unter japanischer Führung setzte für Ôkawa zunächst ein starkes Japanisches Kaiserreich voraus. Ôkawa formte im Sommer 1919 den Zirkel Yûzonsha 猶存社 (Fortbestehende Vereinigung) mit Kita Ikki 北一輝 (1883-1937) und sprach sich unter anderem für die Abschaffung des Parlamentarismus im Rahmen einer sogenannten zweiten Restauration aus. Nachdem die erste Restauration (d.h. die Meiji-Restauration im Jahr 1868) die Unterdrückung durch die Kriegerklasse beendet habe, müsse eine zweite Restauration den Aufstieg des Volks und den Sturz der Cliquen (kômin tôbatsu 公民討伐) herbeiführen. So sollten Volk und Kaiser zusammengeschweißt und das in der Meiji-Zeit formell erklärte Ideal eines Staatsgründungsgeistes konkret realisiert werden, um dem Westen schließlich gestärkt entgegenzutreten. Der Parlamentarismus war für Ôkawa Ausdruck einer seit 1905 aufgekommenen geistigen Stagnation, welche eigennützigen Eliten ohne Staatsziele den Weg geebnet hatte. Im Dezember 1931 gründete Ôkawa die Jinmu Gesellschaft (Jinmukai 神武会), um junge und vor allem einflussreiche Bürger für sein Vorhaben zu gewinnen. Die Bewegung schaffte es nicht, die Parlamentswahlen im Februar 1932 zu beeinflussen und der Putschversuch des Militärs im März 1931, der sogenannte „März-Zwischenfall“ (Sangatsu jiken 三月事件), an dem er sich beteiligt hatte, scheiterte ebenfalls. Doch die Ermordung von Inukai Tsuyoshi zwei Monate später, die Ôkawa mit Waffen, Munition und Geld unterstützt hatte, bewirkte zumindest die von ihm erwünschte Entmachtung des Parlaments.
Das übergeordnete Ziel von Ôkawa war aber vor allem die Befreiung und Vereinigung Asiens. Als ein Verfechter der Panasien-Bewegung war er der Ansicht, dass „Asien eins ist“ – ein Leitspruch, der von Okakura Kakuzô geprägt wurde, dessen wichtigen intellektuellen Einfluss Ôkawa häufig betonte. Alle Panasiatiker mussten sich mit der offensichtlichen sprachlichen, kulturellen und politischen Vielfalt Asiens auseinandersetzen, welche die angebliche Einheit dieses riesigen Kontinents widerlegte. Die meisten japanischen Panasiatiker umgingen diesen Widerspruch, indem sie sich nur auf Ostasien konzentrierten und den Rest außer Acht ließen. Ôkawas Asien hingegen umfasste ein Gebiet, welches die Grenzen des geografischen Asiens überschritt und Ägypten sowie die muslimisch bewohnten Teile der Balkanhalbinsel miteinschloss. Denn auch wenn er sich jener Vielfalt bewusst war, stand sie für ihn in keinem Widerspruch zu seinem Traum einer asiatischen Einheit. Er war der Ansicht, dass alle asiatischen Nationen bestimmte grundlegende Eigenschaften teilten, die dem Westen fehlten. Diese Eigenschaften waren spiritueller oder moralischer Natur und definierten die Essenz Asiens mehr als sprachliche, kulturelle oder politische Merkmale. Die zeitlose und unveränderliche Spiritualität war für Ôkawa der Grund für die asiatische Verbundenheit in Kultur und Tradition – eine Verbundenheit, die nicht bloß eine romantische Nostalgie nach der Vergangenheit sei, sondern den Asiaten zu einer tiefgreifenden Einsicht in die Natur der Dinge verhelfe. Für Japan sah Ôkawa in einem vereinten Asien eine besondere Rolle vor:
„Die Zeit ist da, dass Japan innerlich und international einen Krieg zur Befreiung von der Sklaverei (durch den Westen) kämpfen muss. … Wir, das japanische Volk, müssen das Zentrum im Sturm zur Befreiung der Menschheit werden. Somit ist der japanische Staat das Absolute, um unser Ideal einer Weltrevolution herbeizuführen.“ (In der Gründungsausgabe der Yûzonsha-Publikation Otakebi (Der Kriegsruf), zitiert nach: NEUMANN 2015a, S. 16f).
Auch wenn Ôkawa sich für die Befreiung Asiens von der westlichen Hegemonie einsetzte und den Westen gegenüber Asien als unterlegen betrachtete, so war er nicht per se antiwestlich. Für ihn stellte der Westen mit seinem materialistischen Charakter einen Gegensatz zum spirituellen Asien dar und er prophezeite oft einen unausweichlichen Schicksalskrieg zwischen den USA und dem Japanischen Kaiserreich, aus dem Japan als Sieger hervorgehen würde. Doch gerade dieser Gegensatz und der ständige Kampf sicherten Ôkawas Ansicht nach Asien die Existenz und den Fortschritt. Asien könne nur in Abgrenzung zum Westen bestehen und sich nur durch den Kampf gegen den Westen weiterentwickeln. Diese Kriegsverherrlichung offenbart zwar den Einfluss Hegels auf Ôkawas Weltanschauung, beschränkt sich jedoch nur auf die Theorie. In der Tat versuchte Ôkawa nämlich, den Eintritt der USA in den Krieg zu verhindern, was wohl der Einsicht geschuldet war, dass Japan gegen einen solchen Gegner nicht gewinnen konnte.
Als der Tennô am 15. August 1945 die Kapitulation Japans in einer Radioansprache verkündete, befürchtete Ôkawa zunächst, dass seine Bemühungen der letzten 40 Jahre für die sogenannte Wiederbelebung Asiens umsonst waren. Doch auch wenn er zuvor die Befreiung Asiens von Japans Erfolg im Krieg abhängig gemacht hatte, gab er selbst nach der verheerenden Niederlage seinen Traum vom endgültigen Sieg Asiens über den Westen nie auf. Er verfolgte nach wie vor die Entwicklungen in Asien und kommentierte sie in verschiedenen Schriften. Ebenso pflegte er weiterhin den Kontakt zu namhaften Persönlichkeiten im asiatischen Unabhängigkeitskampf wie etwa Yo Un-hyong (1886-1947) aus Korea oder Jawaharlal Nehru (1889-1964), dem ersten Ministerpräsidenten Indiens, welcher während seines Staatsbesuchs in Japan 1957 Ôkawa eine persönliche Einladung zukommen ließ, die er aus Krankheitsgründen nicht annehmen konnte. Ôkawa blieb bis zu seinem letzten Atemzug ein überzeugter Verfechter der Panasien-Bewegung.
Der Krieg veränderte Ôkawa jedoch, da er im Laufe seiner vergeblichen Bemühungen, die brutale Vorgehensweise des Kaiserreichs in China aufzuhalten und die asiatischen Nationen auf diplomatischem Weg von der Führungsrolle Japans im Befreiungskampf gegen den Westen zu überzeugen, zu der Einsicht gelangt war, dass sein idealisiertes Panasien unter japanischer Vorherrschaft keinerlei Aussicht auf Akzeptanz in den anderen asiatischen Nationen hatte und dass die Vereinbarkeit des japanischen Imperialismus und der Gleichbehandlung anderer Völker eine Illusion war. Diese Veränderung in Ôkawas Denken machte sich bereits während des Krieges bemerkbar, in dessen Verlauf er sich des Öfteren über die Eigenarten der japanischen Bevölkerung beschwerte, da auch sie Mitschuld am Scheitern der Mission träfe, die asiatischen Nationen von der Führungsrolle Japans zu überzeugen. Ôkawas panasiatische Gesinnung und seine Ansicht zum Verhältnis von Orient und Okzident hatten den Krieg zwar überlebt, doch seine Hoffnungen im Hinblick auf die Rolle Japans in der von ihm prophezeiten neuen Weltordnung schienen gemeinsam mit dem Kaiserreich untergegangen zu sein.
Ôkawa Shûmeis Lebensgeschichte steht repräsentativ für eine außergewöhnliche und von Wandel geprägte Zeitspanne der japanischen Geschichte. Als Mensch, der noch in der Meiji-Zeit geboren wurde, erfüllt Ôkawa ein Sehnsuchtsgefühl nach dieser Zeit - der Beginn der Modernisierung Japans bot das Versprechen von Möglichkeiten für die gesamte Bevölkerung. So ist die Forderung Ôkawas nach einer zweiten Restauration nicht nur einem nostalgischen Gefühl entsprungen, sondern kommt dem Verlangen nach einem politischen Neubeginn gleich. Wie in der Meiji-Zeit und dann Taishô-Zeit üblich zieht es die politisch Aktiven in die Hauptstadt, denn nur dort können Gleichgesinnte gefunden und politische Ideen realisiert werden. So zieht es auch Ôkawa nach Tôkyô, ins Zentrum der Politik.
Die Kriegszeit bleibt im kollektiven Gedächtnis Japans häufig eine seltsame Leerstelle. Auch bei Ôkawa ist zu beobachten, dass er in der Nachkriegszeit nicht etwa an seine Tätigkeiten während des Krieges, sondern an seine Forderungen der Vorkriegszeit anschließt: Die panasiatische Idee ist mit dem Krieg nicht begraben worden, sondern muss sich neu aufstellen. Das Ziel, Asien von westlicher Herrschaft zu befreien, bleibt zwar bestehen, doch die Führungsrolle Japans muss nach dem verlorenen Krieg zurückgestellt werden.
Ôkawa wurde in der Geschichtswissenschaft lange außer Acht gelassen, was vermutlich auf seinen Ruf als Panasiatiker und Radikaler zurückzuführen ist. Die Vernachlässigung Ôkawas ist insofern merkwürdig, als sein einstiger Partner Kita Ikki weiterhin im Rampenlicht akademischer Forschungen steht. Kitas Charisma, sozialistische Ansichten und Hinrichtung aufgrund seiner Beteiligung am Putsch vom 26. Februar 1936 machten ihn in der Nachkriegszeit sowohl in rechten als auch in linken Kreisen zu einer beliebten Figur und einem bevorzugten Gegenstand zahlreicher japanischer und internationaler Arbeiten. Der Ruf von Kita Ikki in der Nachkriegszeit führt jedoch dazu, dass sein tatsächlicher Einfluss in der Vorkriegszeit überschätzt wird. Vor dem Krieg waren die meisten seiner Bücher entweder verboten oder vergriffen, weshalb nur wenige Leser*innen Zugang zu ihnen hatten. Zudem hatte Kita kein offizielles Amt inne, nie an einer Universität gelehrt oder gar einen Abschluss gemacht. Sein viel gepriesener Einfluss in der Armee beschränkte sich auf einfache, untergeordnete Offiziere, welche die gesellschaftlichen Realitäten nicht kannten. Bei Ôkawa verhält es sich umgekehrt: Die fehlende Beachtung, die ihm nach dem Krieg zuteil wurde, schmälert seine tatsächliche Bedeutung in der (Vor-)Kriegszeit. Ôkawa schrieb populäre Bestseller, promovierte an der Kaiserlichen Universität in Tôkyô, lehrte an prestigeträchtigen Institutionen, leitete das hoch angesehene Forschungsinstitut der Südmandschurischen Eisenbahn und hatte Verbindungen zu führenden Politikern, zum Hochadel, zu den höchsten Rängen der Armee und sogar zum kaiserlichen Hof. Sowohl Kita als auch Ôkawa verfolgten beide einen panasiatischen Traum und schreckten für dessen Verwirklichung auch nicht vor radikalen Methoden zurück. Ôkawas Verhaftung als Kriegsverbrecher der Klasse A rückte ihn jedoch trotz seines größeren Einflusses in den Schatten von Kita Ikki.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Biographie von Ôkawa Shûmei zeigt, wie sich bis heute nationalistische Ideen in Japan über die Zeit retten konnten und auch der verlorene Krieg mit den verheerenden Folgen für die asiatischen Länder kein Umdenken erzwang. Vielmehr ist die heutige Politik Japans von geschichtsrevisionistischem Denken geprägt, welches eine kritische und objektive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verhindert.
Yaren GÜLSOY