Der Film „Drive My Car“ – Ein psychologisches Lehrstück?
Ein Essay von Thomas Morgner, 10.06.2024
„Drive My Car“ von Ryusuke Hamaguchi basiert auf drei Kurzgeschichten von Haruki Murakami, die als lose Vorlagen dienten. Aus seinen Skizzen ist ein epischer, aber in sich gleichzeitig beeindruckend geschlossener Film – gewissermaßen ein roter Saab-Zweitürer mit festem Dach - geworden, und – quasi im Fond sitzend - mit Elementen aus Tschechows „Onkel Wanja“ verschmolzen.
Der Film handelt von einem Theaterregisseur namens Kafuku, der nach dem Tod seiner Frau mit seiner Vergangenheit und seinen Gefühlen konfrontiert wird. Während eines Arrangement als Regisseur zur Aufführung eines Theaterstücks von Tschechow in Hiroshima wird er von einer jungen Frau chauffiert, die ihm letztlich helfen wird, seine Trauer zu bewältigen.
Zentraler Inhalt des Films ist der Mensch mit seinen Gefühlen und seinen Emotionen. Daneben existieren noch zwei Haupt-Nebenrollen, ein Auto in Form eines roten Saab 900 Turbo und Tschechows „Onkel Wanja“. Während der Autofahrten sind viele Textpassagen aus Tschechows Stück zu hören.
Der Mensch mit seinen Gefühlen und Emotionen
Der Filmregisseur nimmt einen mit auf eine dreistündige Erkundungsfahrt in die Tiefe der menschlichen Psyche. Wenn wir über unsere Gefühle sprechen meinen wir häufig, dass sie keinem bewussten Einfluss unterliegen und wir ihnen machtlos ausgeliefert sind. Das ist ein Irrtum, auch wenn die Sichtweise für einige neu sein könnte. Die Ursache eines Gefühls liegt nicht einfach in einem Ereignis oder bei einem Objekt, sondern in unserem Gehirn. Gefühle kommen uns zwar vor wie etwas, das ausgelöst wird und auftaucht, ohne weiteren Einfluss darauf zu haben. Das ist ein Fehlschluss, denn in den meisten Fällen sind es unsere unbewussten Wertungen, die negative Emotionen hervorrufen und nicht die Ereignisse selbst.
Gefühle und Emotionen entstehen unter anderem als Reaktion auf konkrete Anlässe. Sind die Anlässe unerfreulich, entsteht häufig durch das Unterbewusstsein ein negativer Gedankenkreislauf, der entsprechende Sogwirkungen entfaltet. Dann wird blitzschnell und ungefragt durch das Unterbewusstsein das Ereignis oder die Situation negativ bewertet und bereitet so das Entstehen negativer Gedanken vor. Als Reaktion darauf gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder lassen wir dem negativen Gedankenimpuls freien Lauf. Das ist leicht und bequem, wir brauchen lediglich dem Autopiloten Unterbewusstsein das Steuer zu überlassen. Oder wir nehmen bewusst Einfluss auf die Emotionen, mit Geduld, Vernunft, Gelassenheit, ja Witz. Das ist jedoch mühselig, wir müssen unsere Intelligenz dafür bemühen.
Wenden wir uns dem Film zu. Er bietet reichlich Stoff für psychologische Analysen und Interpretationen mit einigen Schlüsselpunkten, die sich in Bezug auf die psychologische Analyse und Interpretation des Films hervorragend eignen. Man möchte gar nicht mehr aussteigen.
Dort trägt die Darstellung von Schuldgefühlen, Trauer und Verlust wesentlich zur Tiefe der Handlung und zur Entwicklung der Charaktere bei. Angefangen im Prolog, der eine Präsentation von Schuldgefühlen zeigt, und zwar wie stark diese Emotionen das Leben des Hauptdarstellers Kafuku und seiner Frau Oto beeinflussen. Die fortwährende Trauer um ihre verstorbene Tochter lässt sie auch nach 17 Jahren nicht los. So wird die langanhaltende Auswirkung von Verlust und die tiefe emotionale Bindung, die Menschen zu ihren Liebsten haben, verdeutlicht.
Dann zwingt der Tod von Oto Kafuku dazu, sich auch noch mit dem Verlust seiner Frau auseinanderzusetzen und die darauf bezogenen eigenen Emotionen zu verarbeiten. Er hat sich seinen inneren Dämonen, wie beispielsweise Schuldgefühlen oder unverarbeiteten Emotionen, zu stellen. Der Prozess des Loslassens kann schmerzhaft sein, aber auch eine Befreiung von emotionalen Lasten und den Weg zu einem Neuanfang darstellen. Das ist ein wichtiger Schritt in der psychologischen Entwicklung der Charaktere.
Dieser Neuanfang beginnt zum einen durch die Arbeit am Theaterstück und die Interaktionen mit anderen Schauspielern und Charakteren. Hierdurch findet sich Kafuku in einer Selbstreflexion über seine Identität und die Vergangenheit wieder. Die Inszenierung des Theaterstücks ermöglicht ihm, sich in anderen Rollen und Situationen zu sehen, was ihm neue Erkenntnisse über sich selbst bringt.
Und auch die Darstellung der Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen, insbesondere zwischen Kafuku und seiner Chauffeurin Misaki, ist ein zentraler Aspekt des Films. Die Beziehung zwischen ihnen wird im Laufe des Films als eine tiefe emotionale Bindung dargestellt, die beiden Charakteren hilft, mit ihren inneren Konflikten und emotionalen Herausforderungen umzugehen. Diese Art von Beziehung bietet Trost, Verständnis und Unterstützung, die für das emotionale Wachstum und die Heilung der Personen entscheidend sind. Der Film zeigt intensiv, wie zwischenmenschliche Beziehungen therapeutisch wirken können, indem sie den Charakteren einen Raum für Offenheit, Ehrlichkeit und gegenseitige Unterstützung bieten.
Und nicht zu vergessen, der Film „Drive My Car“ verdeutlicht die Bedeutung von Kommunikation und Ausdruck als Mittel zur Verarbeitung von Emotionen und zur Schaffung von Verbindungen. Die Gespräche zwischen Kafuku und Misaki ermöglichen ihnen, sich zu öffnen und eine neue (positive) Lebensperspektive zu finden. Indem sie sich gegenseitig zuhören, einander unterstützen und gemeinsam Herausforderungen bewältigen, können sie eine tiefere Verbundenheit aufbauen und einander auf ihrem Weg der Selbstfindung begleiten.
Und die Interaktion mit Misaki und mit den Schauspielern durchbricht die negative Gedankenspirale Kafukus – und auch die Misakis. Nicht mehr dem Autopiloten Unterbewusstsein wird die Kontrolle überlassen, sondern es beginnt das Überdenken der eigenen Überzeugungen, Werte und Emotionen. Hier verdeutlicht sich die Betonung von Kommunikation und Ausdruck im Film als die transformative Kraft von offenen Gesprächen, kreativem Ausdruck und zwischenmenschlicher Verbindung bei der Bewältigung von Emotionen und der Schaffung einer neuen Lebensperspektive.
Und gleichzeitig wirft der Film Fragen nach der Bedeutung von Kunst und Theater auf, insbesondere in Bezug auf die Möglichkeit der Selbstreflexion und Identitätsfindung. Kunst kann als Spiegel dienen, der den Charakteren hilft, sich selbst und die Welt um sie herum besser zu verstehen.
Saab 900 Turbo, „Onkel Wanja“ und ein Beatles-Lied
Eigentlich spielt auch ein Auto die Hauptrolle, zumindest eine Haupt-Nebenrolle, ein roter Saab 900 Turbo. Denn es wird viel gefahren in diesem Film, durch ein nicht immer attraktives Japan. Gerade die lange Fahrt in einer Auszeit von der Stadt hinaus ins verschneite ländliche Japan korrespondiert mit einer inneren Entwicklung der Figuren.
Häufig hören wir ein Lied, und zwar „Drive My Car“. Ursprünglich ist es ein bekannter Song der Beatles aus dem Jahr 1965, der im Film in abgewandelter Form gespielt wird. „Drive My Car“ steht wohl nicht direkt mit dem Beatles-Lied in Verbindung, jedoch wurde der Titel des Films möglicherweise nicht nur von Murakamis Kurzgeschichte sondern auch von dem Lied inspiriert.
Bemerkenswerterweise kann das Lied „Drive My Car“ im Kontext der Autofahrten als eine Botschaft von Freiheit und insbesondere Flucht vor Problemen interpretiert werden, wobei das Auto als Metapher für die Flucht vor emotionalen Belastungen dient. Es bringt die Idee der Befreiung und des Loslassens von Sorgen zum Ausdruck, die in der Psychologie eine bedeutende Rolle spielen. Und für Kafuku war sein Saab 900 und die Autofahrten zunächst wie ein Safe Room, um dort vor seinen emotionalen Belastungen zu fliehen. Interessant ist die Verknüpfung zwischen den langen Autofahrten und den – fast wie in einer Endlosschleife laufenden – Textpassagen aus „Onkel Wanja“. Kafuku liebt nicht nur den Wagen. Auf seinen langen Fahrten hört er die Texte. So lernt er die Stücke und seine Rolle besser kennen. Gleichzeitig kann er während der Fahrten seiner verstorbenen Frau – und damit auch seiner Trauer - nahe sein. Durch Theatertexte aus „Onkel Wanja“, die seine Frau Oto für ihn auf Kassette gesprochen hatte.
Auch Misaki hat ein tragisches Schicksal zu verarbeiten, auch sie plagt sich mit Schuldgefühlen und weicht einer Neuorientierung ihres Lebens durch endloses Fahren aus.
Eigentlich sind die Autofahrten ein geeignetes Mittel für eine Flucht vor Problemen. Hier entwickelt sich jedoch – natürlich im Kontext mit den oben beschriebenen Prozessen – das Gegenteil. Während der gemeinsamen Autofahrten beginnt zunehmend die Flucht vor den Problemen zu schwinden und mit dem gemeinsamen Texthören beginnen Kafuku und Misaki ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen und sich einander immer mehr zu öffnen.
„Onkel Wanja“ alias Kafuku?
Um diese Frage vorweg zu beantworten: Jein!
„Onkel Wanja“ ist ein Theaterstück von Tschechow, das verschiedene Themen wie Liebe, Enttäuschung, Sinn des Lebens und Glück erkundet. Eine eindeutige Interpretation insbesondere auf psychologischer Ebene ist wie bei vielen Tschechow-Werken nicht gegeben. Das Stück kann als Studie über die menschliche Psyche betrachtet werden und thematisiert Aspekte wie Selbstentfremdung, Langeweile, Liebe, Leidenschaft und Identitätskrise. Es zeigt, wie Charaktere mit inneren Konflikten umgehen und ihre Beziehungen zueinander gestalten. Wenn es in einer mehrfach wiederholten Szene des Stückes heißt „Und im Jenseits werden wir sagen, dass wir gelitten haben, dass wir geweint haben und dass unser Leben schwer war“, trifft dies auch auf Kafuku und seine Fahrerin zu.
Kafuku und „Onkel Wanja“ zeigen Parallelen in Bezug auf die Erforschung der menschlichen Psyche und die Darstellung komplexer zwischenmenschlicher Beziehungen. In „Onkel Wanja“ und „Drive My Car“ erleben Charaktere eine Identitätskrise und stellen existenzielle Fragen zum Sinn des Lebens, ihren Entscheidungen und Lebenszielen. Sie konfrontieren sich mit der Leere und Sinnlosigkeit des Daseins und suchen nach Antworten auf existenzielle Fragen. Die Figuren versuchen, Wege zu finden, um mit dieser Krise umzugehen und nach Trost zu suchen.
In „Drive My Car“ verschmelzen Sätze aus Tschechows „Onkel Wanja“ mit Kafukus Lebenserfahrungen auf emotional intensive Weise. Die Verwendung von Textpassagen aus dem Theaterstück und deren Bezug zu Kafukus Leben verleiht dem Film eine weitere tiefgründige Dimension. Die Verarbeitung tragischer Ereignisse und persönlicher Reifungsprozesse werden in einer metaphorischen Weise dargestellt, als ob aus den Trauben der Worte ein schwerer Lebenswein entsteht. Die Wiederholung von Passagen zeigt, wie persönliche Erfahrungen die Wirkung von Texten verändern können und verdeutlicht die Verbindung zwischen Schauspielern und ihren Rollen. Wenn es jedoch bei Tschechow um Verdrängung und Lebenslüge geht, die Vergangenheit als schlimm und die Gegenwart als noch schlimmer erscheint, bis sich die Figuren der Realität stellen, so findet Kafuku – und auch Misaki - in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal zu neuem Leben und Aussöhnung mit sich selbst.
So spiegelt sich am Ende der Szene im Gegensatz zu „Onkel Wanja“, der nicht über genug Mut, Entschlossenheit oder Kraft verfügt, etwas zu ändern, und sich weiterhin in einer negativen Gedankenschleife befindet, im Gesicht von Kafuku eine Mimik, dass ein Neubeginn (immer) möglich ist.
…….und Misaki?
Am Ende des Films sehen wir eine sichtbar veränderte Misaki. Statt zuvor graue Kleidung und zusammengebundenes Haar ist sie in der Schlussszene im Supermarkt mit offenem Haar und heller Kleidung zu sehen. Im Auto, weiterhin ein Saab oder noch der Saab 900 Turbo, wartet ein Hund auf sie und sie lächelt bei der anschließenden Fahrt zufrieden. Was für eine Veränderung zu der Person Misaki zuvor.
Ja, ein Neubeginn ist immer möglich, wenn man handelt, sich in die Arme des menschlichen Trostes fallen lässt, sich sein Leiden gegenseitig offenbart und zudem eine Aufgabe hat, die einen mit Sinn erfüllt. Halt, indem man bewusst Einfluss auf die Emotionen nimmt, mit Geduld, Vernunft, Gelassenheit und Gemeinsamkeit, mit einem Wir!
Der Film „Drive My Car“ ist wahrlich ein imposantes psychologisches Lehrstück!