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Die Landschaft als filmischer Raum –
Die Anfangs- und Schlusssequenz des Films „Lucky“ von John Carroll Lynch (USA 2017)
(Brigitte Anthes-Kettler)

„© Alamode Film“

Einleitung

Die Tragikomödie „Lucky“ ist eine Hommage an den amerikanischen Schauspieler Harry Dean Stanton, der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten (2016) fast 90 Jahre alt war. Er spielt die Hauptrolle in diesem Film.
Drehort ist u.a. eine Kleinstadt in Südkalifornien am Rande der Sonora-Wüste, die in der Anfangs- und Schlusssequenz als filmische Landschaft bedeutungsvoll visualisiert wird.
Es soll nun untersucht werden, welche Elemente der Landschaftsdarstellung eingesetzt werden, um Handlungsrahmen und Atmosphäre für den Film zu schaffen.

Beschreibung der Anfangssequenz (00:00:08 – 00:00:47)

Zu ihr gehören sechs ruhige Bilder, sechs unterschiedliche Einstellungen zur Zeit des Sonnenaufgangs. Die Kamera wechselt jeweils den Standort und wird dann dort nicht mehr bewegt.

1. Bild: Sternförmige Sonnenstrahlen erscheinen über dem scharfen Rand einer Bergkette, deren dem Zuschauer zugewandten Abhänge im Dunkeln liegen. Sie wirken fast schwarz und füllen zwei Drittel der Leinwand aus. Eine Bergspitze auf der linken Seite wird schon seitlich von der Sonne erhellt. Der Himmel ist noch fast farblos. Das deutliche Rauschen des Windes und die Klänge von Vogelstimmen verstärken den Eindruck des erwachenden Naturraums.

2. Bild: Die Kamera zeigt im Hintergrund die karge Gebirgslandschaft aus veränderter Perspektive. Ihre steilen, zerklüfteten Felshänge mit geringem Pflanzenbewuchs werden von rechts von der bereits stärkeren Sonne beleuchtet und strahlen in teils rötlichen, teils gelblichen Farben. Im Vordergrund erkennen wir, noch im Schatten liegend, den Abhang eines Hügels, bewachsen mit Gebüsch und Kakteen. Der Himmel hat schon ein zartes Blau und die Naturgeräusche werden lauter und deutlicher.

3. Bild: Aus näherer Perspektive zeigt die Kamera in der Halbtotalen einen Ausschnitt der Pflanzenwelt in dieser Landschaft. Die Sonne steht jetzt bereits höher über dem linken oberen Bildrand. Aus Untersicht, aber mit Tiefenschärfe erkennt man im seitlichen Gegenlicht Gebüsch, Gräser und verschiedene Arten im Frühsommer blühender Kakteen. Hervor stechen die großen, phallischen, bis zu 15 Meter hohen Western-Kakteen (Saguaros) und eine kleinere Art (Chollas) mit weißen, büschelförmigen Dornen, den Areolen. Diese werden von den Sonnenstrahlen erleuchtet und geben der Szene einen freundlichen Charakter.

4. Bild: Ein weiterer, etwas größer gefasster Ausschnitt der dem Gebirge vorgelagerten Hügellandschaft zeigt jetzt Spuren menschlichen Eingreifens. Er wird bei etwas höherem Sonnenstand von rechts beleuchtet, die Kakteen werfen noch lange Schatten. In der mittleren Horizontale, teils verdeckt durch Büsche an seinem Rand, führt ein steiniger Weg von rechts herab und dann im Bogen, dem hügeligen Gelände folgend, nach links einen Hang hinauf. Er ist ungepflastert, zeigt aber Fahrspuren. An seinem tiefsten Punkt, in der Mitte des Bildes, führt ein Pfad vom Hauptweg ab zum vorderen Bildrand hin. Dort erkennen wir eine große Landschildkröte (Gopherschildkröte, bis zu 36 cm lang), die langsam nach links hinter einem Busch vorbei aus dem Bild herausläuft. Zum lauten Vogelgezwitscher hört man nun in der Ferne Hundegebell, als Vorbote einer nahen menschliche Besiedlung.

5. Bild: In der Totale sehen wir eine frühmorgendliche, noch fast nächtliche Landschaft mit Weitblick auf eine Ebene und Bergketten am Horizont. Im Vordergrund rechts steht ein kleines Holzhaus, eingerahmt von den noch schwarzen Umrissen einer hohen Zypresse und eines Laubbaums. Seine Front liegt im Schatten, ein Zaun umgibt einen sandigen Hof. Dahinter erkennen wir grün bewachsenes Gelände und die dunklen Umrisse von Gebäuden einer Ortschaft. Die Sonne erhebt sich gerade hinter der Bergkette rechts im Hintergrund und ihre Strahlen durchbrechen den linken Saum der Zypresse. Der lens flare effect mit seinen roten Streifen verstärkt die Stimmung des Übergangs von der Nacht zum Tag.

6. Bild: Von der Landschaft führt uns der Film zu einem Detail im dunklen Inneren des Hauses: Hände zünden eine Zigarette an, deutlich sieht man die Glut, darunter steht auf einem Schränkchen ein verzierter alter Messing-Aschenbecher mit Asche und zwei Stummeln.

Beschreibung der Schlusssequenz (01:18:24 – 01:21:49)

Die Hauptfigur Lucky steht im Mittelpunkt der Schlusssequenz. Mit ihren Bildern kehrt diese zurück in die filmische Landschaft des Beginns.

Luckys Spaziergang in die Wüste bildet den Abschluss des Films. Dieser wird vorbereitet durch die Einfügung von Shots aus der Eingangsszene in die vorausgehende Handlung. Dazu gehört die dunkle Silhouette der Gebirgskette mit den Strahlen der aufgehenden Sonne darüber (Bild 1), sein Haus beim Sonnenaufgang (Bild 5) und der Messing-Aschenbecher an seinem Bett (Bild 6).

Nach seinem Gang durch den Ort betritt Lucky die Wüstenlandschaft in der Nähe seines Hauses auf dem Hauptweg der im 4. Bild der Anfangssequenz beschriebenen Szenerie. Vom rechten Bildrand her geht er langsam den steinigen, nach links leicht abschüssigen Weg quer durch das Bild hinunter. Dem Schattenwurf nach ist es früher Nachmittag. Vögel zwitschern, der Wind rauscht, seine Jacke flattert und er drückt seinen Westernhut fest auf den Kopf. Am tiefsten Punkt des Weges sehen wir ihn in Nahaufnahme von vorne rechts, im Hintergrund einen Abhang mit Büschen und Kakteen. Er bleibt stehen und wendet seinen Kopf nach links. Er zögert, leckt die Lippen, scheint nachzudenken. Die nächste Einstellung zeigt ihn von vorne in der Halbtotalen an der Abzweigung des Seitenpfads. Er geht diesen hinunter, der Kamera entgegen. Wieder mit Abstand, in der Totale, sehen wir, wie er sich von links den Hügel hinab einem riesigen, 10 Meter hohen, mehrarmigen Saguaro-Kaktus nähert. Er bleibt unter ihm stehen und wendet seinen Blick nach oben, um ihn näher zu betrachten. Die Kamera folgt seinem Blick und zeigt Details der Pflanze in Nahaufnahme. Ein anthropomorphes Bild bietet sich: Im Hauptstamm klaffen alte, verheilte Wunden, die die Silhouette eines Greisengesichts bilden könnten, mit offenem, zahnlosem Mund, langer Nase und Augenhöhlen. Die Kamera folgt dann den Verzweigungen des Kaktus und bleibt beim Blick auf einen großen Seitentrieb stehen, der ganz oben einen Kranz frischer Blüten aufweist.
Wir sehen Luckys Kopf in Nahaufnahme, wie er seinen Blick langsam zur Seite über den Kakteenhügel schweifen lässt. Dann schaut er wieder nachdenklich hoch zum Kaktus, kramt seine Zigaretten aus der Jackentasche und zündet sich eine an. Nach dem ersten Zug blickt er nach rechts auf den Boden hinunter, beginnt zu lächeln und schaut in die Kamera.
Er wendet sich ab und geht den Pfad zurück zum Hauptweg. Der Titelsong des Films setzt ein: „I stole the right to live“. Mit beschwingtem Schritt folgt er dem Weg links aufwärts den Hügel entlang. Jetzt erscheint vom linken Bildrand her ganz langsam die große Landschildkröte, die genau dort in der Anfangssequenz das Bild verließ. Sie läuft hinter dem Busch entlang zur Mitte des Pfades, während Lucky in der Entfernung hinter einer Wegbiegung verschwindet. Die Leinwand wird schwarz und der Abspann beginnt, begleitet vom Song.

Analyse

Anfangssequenz

Die Präsentation der Wüste zur Zeit des Sonnenaufgangs schafft eine Atmosphäre des Anfangs und weckt Erstaunen und Bewunderung. Schönheit und Harmonie entstehen im Auge des Betrachters durch das Schauspiel der Sonnenstrahlen über dem Gipfel, die warmen Farben der erleuchteten Felsen und das Gegenlicht hinter den Kakteen, das ihre Dornen wie ein weicher Flaum erscheinen lässt. Das Rauschen des Windes und vor allem die Vogelstimmen vermitteln ein Gefühl des Wohlbefindens in einer intakten Natur.

Teil dieser Lebenswelt ist die in Kalifornien heimische Gopherschildkröte, eine der größten Landschildkröten der Welt. Sie überlebt in der Wüste und kann dort bis zu 200 Jahre alt werden. Die Schildkröte gehört zu den weltweit ältesten Symboltieren. Sie steht für Widerstandsfähigkeit und Langlebigkeit, Ruhe, Stabilität, Zuverlässigkeit und Treue. Im Buddhismus, der in der Filmhandlung eine Rolle spielt, hilft sie beim Übergang ins Nirwana. Was wir erst in der Schlusssequenz verstehen:
Die Schildkröte, die auf Bild 4 über den Weg läuft, ist Lucky’s Freund Howard entlaufen, dessen hochgeschätztes und geliebtes Haustier sie war und deren Verlust ihn in große Trauer gestürzt hat.

Die Bilder der Wüste und ihrer Flora und Fauna weisen als Metaphern auf das Leitmotiv des Films: auf Langlebigkeit und Überlebenswillen, den Umgang Luckys mit seiner Sterblichkeit.
Sein kleines Haus in einem Ort am Rande der Wüste wird uns auch im warmen, effektvollen Gegenlicht des subtropischen Sonnenaufgangs zum ersten Mal gezeigt. Im noch dunklen Inneren des Hauses erscheint dann als erstes Licht die Flamme eines Feuerzeuges und die Glut seiner ersten Zigarette. So paradox es klingt: Für Lucky, fast 90 Jahre alt, ist die Zigarette ein Zeichen seines Trotzes, seines Widerstands und seiner Widerstandsfähigkeit, ein Motiv, das bis zur Schlusssequenz immer wieder auftaucht.

Bezug zur Filmerzählung

Im Laufe des Films lernen wir ihn in seiner täglichen Routine und in Lokalszenen und Gesprächen mit seinen Freunden und Bekannten näher kennen. Seiner eher schroffen Art des Umgangs begegnet seine Umgebung, sicher aufgrund seines hohen Alters, mit Duldsamkeit und Freundlichkeit, soweit es eben geht. Man schätzt ihn und kümmert sich um ihn. Wir lernen etwas über seine Vergangenheit, seine Lebensphilosophie und die Art, wie er mit einem unerwarteten gesundheitlichen Zusammenbruch umgeht.

Schlusssequenz

In der letzten Sequenz folgt er einer Anregung seines Freundes Howard und begibt sich auf den Weg in die Wüstenlandschaft, die Natur ganz in der Nähe seines Hauses. Er findet den Riesenkaktus, der es im Alter mit Howards Landschildkröte aufnehmen kann. Dessen besonderes Merkmal ist eine große Wunde, wahrscheinlich die Nisthöhle eines Spechts. Diese Wunde hat den Kaktus offenbar nicht geschwächt, sondern wir sehen seine andauernde Lebenskraft im Blütenkranz des Seitenarms. Sie hat dem Vogel sogar den Schutz für seine Brut geboten.
Die Kamera verweilt lange auf Luckys Gesicht und seiner Mimik, folgt seinen Blicken und gibt uns so Hinweise auf seine möglichen Gedanken: Hier ist ein Lebewesen, so alt wie er, so stachelig wie er, so trotzig wie er gegenüber einer oft widrigen Umgebung. Und dann erkennt er in der ‚Grimasse‘, die die Spechthöhle hinterlassen hat, auch sein eigenes, vom Leben gezeichnetes Greisengesicht mit offenem Mund wie er, wenn er genüsslich den Qualm seiner Zigarette ausatmet. Das ist sofort ein Grund, sein Laster weiter zu pflegen und sich eine anzuzünden. Seine Laune steigt, er lächelt amüsiert und zufrieden, als er in diesem Moment auch noch die entlaufene Schildkröte seines Freundes erspäht, die die Freiheit eines Lebens in ihrer natürlichen Umgebung vorgezogen hat. Die spitzbübisch gute Laune, der neue Schwung, den wir in seinem, ganz symbolisch den Hügel hinauf führenden Abgang beobachten, spiegelt sich im Text des Titelsongs: „I stole the right to live“. Dem Tod hat er ein Schnippchen geschlagen!

Fazit

Die ruhigen Bilder der Wüstenlandschaft formen in ihrem Ewigkeitswert einen schützenden Rahmen um die Handlung des Films, der einen Menschen am Ende seines langen Lebens charakterisieren will. Es wird ihre Schönheit betont, ihre leuchtenden Farben und die Vielfalt ihrer Lebensformen, die vom Menschen unabhängig sind. Bild und Ton schaffen gemeinsam einen atmosphärischen Raum, in dem der Mensch sich wohlfühlen kann.
Pflanzen und Tiere sind hier Überlebenskünstler wie die Hauptfigur Lucky, der sich in ihnen wiedererkennt. Die Landschildkröte und der riesige Kaktus werden in ihrer äußeren Erscheinung, ihrer Lebensform und ihrer metaphorischen Bedeutung benutzt, um die Hauptfigur zu charakterisieren. Die faltige Haut der Schildkröte und die Bruthöhle im Kaktus als Karikatur eines Greisengesichtes sind humorvolle Anspielungen auf Luckys hohes Alter. Der Panzer der Schildkröte und die Stacheln des Kaktus verweisen auf sein eigensinniges, oft störrisches und zänkisches Wesen. Der imposante Kaktus ist ikonisch für die Welt des Westerns, der sich Lucky verbunden fühlt, und der Anblick der Schildkröte, die den Menschen bei weitem überlebt, stiftet Ruhe, indem sie auf eine Zeit nach seinem Tod verweist.
Es sieht aus, als begriffe Lucky in der letzten Szene die Wüstenlandschaft als seine symbolische Heimat. Sie verkörpert Unabhängigkeit, Widerstandskraft, Überleben trotz widriger Umstände und Entstehung immer neuen Lebens. Er freut sich über diese Bilder der Schönheit und Langlebigkeit und schöpft daraus Energie, stiehlt sich das Recht auf ein paar Tage mehr auf dieser Welt.

die_landschaft_als_filmischer_raum_brigitte_anthes-kettler.txt · Zuletzt geändert: 2022/05/24 08:59 von admin