Die Parasiten in „Parasite“ von Bong Joon Ho (Jürgen Laubhold)
Die Marketing-Abteilung mochte „Parasite“ eigentlich nicht und wollte einen anderen Titel für den Film finden. Schließlich blieb es dann doch dabei. (Bong Ho im Interview) Aber: was ist denn nun ein Parasit, und durch wen wird er im Film verkörpert?
Laut Duden ist ein Parasit ein Tier oder eine Pflanze, die auf Kosten anderer Lebewesen existiert oder ein Schmarotzer, ein auf Kosten anderer oder der Gesellschaft lebender Mensch, der nichts eigenes leistet.
Bong Ho porträtiert in seinem Film drei Familien, stellvertretend für drei soziale Gesellschaftsschichten: die Reichen, die Armen und die Ausgeschlossenen - visuell und räumlich schon durch ihre Wohnsituation aufgeteilt in Parterre, Souterrain und Keller. Im Laufe der Handlung werden wir Zeuge, dass alle drei Familien sich je auf ihre eigene Weise wie Parasiten verhalten.
Familie Kim bewohnt eine Souterrain-Wohnung in einer ärmeren Gegend der Stadt. Dort begegnen wir zum ersten mal im Film einem Parasiten, in Gestalt einer Stinkwanze, die Herr Kim mit seinen Fingern vom Tisch schnippt.
Alle Mitglieder der Familie sind arbeitslos und schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben. Nach und nach ergaunern sie sich mit viel Geschick und List gut bezahlte Arbeitsmöglichkeiten im Hause der reichen Familie Park, die nicht ahnt, dass es sich bei all ihren neuen Angestellten um Mitglieder der Familie Kim handelt.
Die Kims verbinden mit ihren Jobs die Aussicht auf ein besseres Leben. Vater Kim lobt immer wieder seine Arbeitgeber: „Wenn wir unsere vier Gehälter zusammen tun, wird aus diesem Haus eine enorme Geldsumme in unseres fließen. Ich möchte hiermit nochmal unserem wunderbaren Herrn Park von Herzen danken!“ Und über Frau Park sagt er später: „Wie kann man nur so reich und so nett sein?“ Seine Frau relativiert sein Lob und kontert: „Sie ist bloß nett, weil sie es sich leisten kann. Wenn das alles hier mein Geld wäre, dann wäre ich noch viel, viel netter …“
Auch sie ist zunächst positiv gegenüber der reichen Familie eingestellt, sagt aber auch: „ihr Geld ist wie ein Bügeleisen. Sie bügeln alles einfach glatt mit ihrem Geld.“
Familie Park hat sich vor einiger Zeit in einem wohlhabenden Wohngebiet das nach außen gut abgeschottete Haus eines berühmten Architekten gekauft. Dessen Haushälterin, Moon Gwang, haben sie gleich mit übernommen. Sie bezahlen ihren Angestellten gute Gehälter und erwarten dafür hohe Qualität für die bezahlte Arbeit. Zum Sohn der Familie Kim, der sich auf Empfehlung seines Freundes Min-Huyk als Erster um einen Job im Hause der Familie Park bewirbt, meint Frau Park: „Entschuldigen Sie, wenn ich das sage: falls Ihr Leistungsniveau nicht das von Herrn Min- Huyk erreicht, sehe ich keine Veranlassung Sie einzustellen.“
Die Tatsache, dass sie für die Dienstleistungen bezahlen, rechtfertigt nach ihrer Ansicht auch eine gewisse Rücksichtslosigkeit, mit der sie die Aufträge an ihre Bediensteten erteilen. „Das ist unser neuer Englisch- Nachhilfelehrer. Wir nennen ihn Kevin.“
Oder zu der neuen Haushälterin, Frau Kim, bei einem Anruf aus dem fahrenden Auto: „Am besten setzen Sie sofort das Wasser auf, ja …!? Zack, zack!“
Auch Herr Park kehrt seine überlegene gesellschaftliche Position immer wieder hervor. Er ist höflich, legt aber großen Wert auf eine gewisse Distanz zu seinen Bediensteten. So weist er seinen Chauffeur Herrn Kim in die Schranken, als dieser mit seiner Frage, ob Herr Park seine Frau liebe, eine ‚Grenze überschreitet’.
Als Herr Kim während der Geburtstags-Party im Garten der Parks die unangemessene Frage noch einmal stellt, weist er ihn erneut in die ihm zugewiesene Rolle: „Sie wissen, Herr Kim, Sie bekommen heute Wochenend-Zulage!“
Auch der übrige Teil der Familie Kim wird wie selbstverständlich für diese Party an einem Sonntag eingeplant. In dieser Szene zeigen sich besonders deutlich die unterschiedlichen Welten der Familien. Während Frau Park gut gelaunt ihr elegantes Ankleidezimmer betritt, telefoniert sie mit ‚Frau Jessica’, der Tochter der Kim-Familie, die die Nacht in einer Notunterkunft verbringen musste und dort in einem Stapel Second Hand Kleider etwas zum Anziehen suchen muss.
Für Familie Park bedeutet das Unwetter der vergangenen Nacht, dass sie ihren geplanten Wochenend-Ausflug abbrechen muss. Familie Kim hat in dieser Nacht so ziemlich alles verloren, was sie besitzt - ihre Wohnung ist komplett überschwemmt.
Trotzdem nehmen sie nun pflichtbewusst ihren Dienst für die Sonntags-Party im Garten der Parks auf. Dabei verrichten sie unter großem Zeitdruck schwere Arbeit, während die Parks daneben stehen und Anweisungen geben. Als Frau Kim die Gartenmöbel schleppt und sie auf dem Rasen neben dem Zelt platziert, in dem der Sohn der reichen Familie übernachtet hat, stören Herrn Park die mit der Arbeit verbundenen Geräusche: „Frau Kim – er schläft noch!“
Mit ihrem Geld sind sie ohne weiteres in der Lage, sich mit all den luxuriösen Dingen zu umgeben, die ihren gesellschaftlichen Status unterstreichen. Wichtig ist vor allem der äußere Schein. Dazu gehören auch das stylische Haus samt bestens gepflegtem Garten oder ihre drei Hunde. Alles wird bei Familie Park zur Dekoration ihres luxuriösen Lebens, ihr Lifestyle trägt viele westliche, amerikanische Züge. Frau Park streut auch gerne kurze englische Redewendungen in ihre Sprache ein. „I’m deadly serious!“ oder zu ‚Frau Jessica’: „Ihre Anwesenheit berechne ich heute natürlich wie eine Unterrichtsstunde – You know what I mean?“
Ihre Hunde dienen als Schmusetiere, aber sämtliche Arbeiten und Spaziergänge mit den Hunden werden von der Haushälterin erledigt. Das gilt auch für die Erziehung der Kinder, die in die Hände von gleich mehreren Angestellten, Lehrern, Therapeuten oder den Pfadfindern übergeben wird. Der Film setzt die Distanz zwischen Eltern und Kindern sehr treffend in Bilder um. So redet Herr Park mit seinem Sohn nur über ein Funkgerät, das er von einer Shopping Tour mitbringt. Eine Kommunikation mit der Tochter findet nur dann statt, wenn die Eltern ihren Gehorsam einfordern.
Für ihren Sohn kaufen sie original Indianer-Federschmuck, Pfeil und Bogen sowie ein Zelt „direkt aus Amerika“, aber auch das sind nur schmückende Dinge, die einfach gut aussehen. Von den indigenen Völkern Amerikas und der ursprünglichen Bedeutung der gekauften Gegenstände wissen sie nichts. Im Interview vergleicht Regisseur Bong Ho das mit den Menschen, die sich Ché Guevara T-Shirts überstreifen, einfach nur weil sie es schick finden. Das zeige die Ignoranz dieser Menschen, die sich mit Dingen schmücken, zu denen ihnen der wirkliche Bezug fehlt, einfach „nur um mit ihrem ‚Geschmack’ für schöne Dinge anzugeben“.
Exakt in der Mitte des Films kündigt ein Klingelton am späten Abend den Besuch der ehemaligen Haushälterin der Park Familie an und läutet damit den ‚Film im Film’ (Zitat Bong Ho) ein.
Familie Kim hat sich im Hause Park ‚breit gemacht’ und feiert ihren vermeintlichen Erfolg, während die reiche Familie einen Ausflug unternimmt. „Wir wohnen doch schon hier“, hören wir einen angetrunkenen Herrn Kim sagen. „Ja, irgendwie schon“, antwortet seine Frau, und dann an ihre Kinder gerichtet: „aber jetzt stellt Euch einmal vor, auf einmal kommt Herr Park durch die Haustür. Was glaubt Ihr, würde Euer Vater tun. Er würde weglaufen wie eine Kakerlake und sich verstecken. Habe ich recht?“
Und genau das tritt wenig später ein, als die Parks ihren Ausflug wegen eines Unwetters abbrechen müssen und nach Hause zurück kehren.
Zuvor erfahren die Kims, dass die eingetroffene ehemalige Haushälterin ihren Mann Geun Se schon seit Jahren im Bunker unter dem Haus der reichen Familie versteckt hält. Er wird heimlich von seiner Frau versorgt, oder er stiehlt nachts Nahrungsmittel aus dem Kühlschrank. Und er voller Ehrerbietung vom Hausherrn, auf dessen Kosten er existiert: „Respekt!“
Geun Se hat seine Lebenssituation und die damit verbundene gesellschaftliche Stellung völlig angenommen und möchte daran auch nichts mehr ändern: „Ich fühle mich eigentlich sehr wohl hier unten! Ich habe das Gefühl, als wäre ich hier geboren.“
Diese noch ärmere Familie wird für Familie Kim nun zur Bedrohung, weil sie deren Intrigen aufdeckt. Das führt zu einem erbitterten Kampf, und wir werden Zeuge der Rivalität zwischen den Armen und den noch Ärmeren, wie sie in ihrer Abhängigkeit um die Gunst der Reichen kämpfen. Sie zeigen keine Loyalität untereinander. Das ist – so Bong Ho - der traurige Teil der Geschichte.
Die ehemalige Haushälterin wird im Verlauf dieser Auseinandersetzung getötet. So richtet sich die Wut des während der Gartenparty aus dem Bunker aufsteigenden Geun Se gegen Familie Kim, im Besonderen gegen die Mutter, die er für den Tod seiner Frau verantwortlich macht. Mit einem Messer sticht er aber zunächst auf Ki-Jung ein, die Tochter der Kims. Der Film erreicht seinen dramatischen Höhepunkt, als nun Vater Kim verzweifelt versucht, die Wunden seiner sterbenden Tochter zu versorgen. Herr Park herrscht ihn an: „Was machst Du denn da, Fahrer Kim?“ Er kümmert sich nicht um seine schwer verletzte Angestellte. Viel wichtiger ist ihm, dass sein in Ohnmacht gefallener Sohn ins Krankenhaus gefahren wird.
Parallel überschlagen sich die Ereignisse. In sehr kurzen und schnellen Schnitten zeigt der Film, wie die Situation eskaliert und nun auch Geun Se, erstochen von Frau Kim, zu Boden geht. Herr Kim gehorcht zunächst Herrn Parks Aufforderung, ihm die Autoschlüssel zuzuwerfen. Dabei geraten die Schlüssel unter den umfallenden, erstochenen Mann. Jetzt verlangsamt der Film sein Tempo extrem. In einer langen (Nah-) Einstellung und geradezu in Zeitlupe sehen wir zunächst Herrn Park, wie er versucht die Schlüssel unter dem Getöteten hervorzuziehen und dabei von dessen Geruch angewidert ist. Die Kamera wechselt zu Herrn Kim. Schon mehrfach hat auch er – peinlich berührt - die Demütigung durch den Ekel der Reichen gegenüber dem Geruch der Armen hinnehmen müssen. Jetzt, in dieser Ausnahmesituation, schlägt sein Schamgefühl in blinde Wut um. Er schnappt sich das Messer und wir werden Zeuge, wie er zum Mörder des reichen Herrn Park wird. Danach flüchtet er (wie eine Kakerlake) in das Kellerversteck und übernimmt quasi die Rolle seines getöteten Rivalen.
Alle Familien in ‚Parasite’ zeigen also parasitäres Verhalten. Die Armen leben auf Kosten der Reichen, immer in der Angst, dass ihr Versteckspiel auffliegt. Sie buhlen um deren Gunst und kämpfen gegeneinander, um ihr Überleben zu sichern. Die Reichen beuten die Arbeitskraft der Armen aus und sind zugleich auch abhängig von ihnen, denn ohne ihre Angestellten könnten sie ihr Leben nicht in dem Luxus führen, wie sie es tun.
Bong Ho geht aber er nicht auf Distanz zu ihnen, er zeigt Empathie für die reichen und ebenso für die armen Familien, die am Ende des Films am Boden zerstört sind. Er verurteilt niemanden. „Ich beschreibe einfach nur die Menschen um mich herum. Keiner ist nur gut oder nur böse.“
Für jede Figur kann man trotz ihres Verhaltens Sympathie oder zumindest Mitleid entwickeln. Alle sind als Stellvertreter ihrer jeweiligen Gesellschaftsschicht in ihrer Situation gefangen. Es gibt keine Gewinner in diesem Film.
Bong Ho wollte „einfach nur das süße Leben aber auch die Bitterkeit und die Schmerzen des Kapitalismus“ zeigen, die wir alle teilen.