Entwicklungsprozess der Figur Adrien (Margarete Wolter)
Adrien Rivoire ist ein junger französischer Soldat aus dem 1. Weltkrieg, der in François Ozons Film nach Deutschland reist, um die Familie des deutschen Soldaten, den er im Krieg getötet hat, zu treffen und um Versöhnung zu bitten. Er trifft in Quedlinburg auf Anna, dessen Verlobte, und auf Hans und Magda Hoffmeister, seine Eltern. Ozon hat den Film ‚Frantz‘ überwiegend in schwarz-weiß gestaltet (die erzählte Zeit ist 1919); so setzt der Film damit ein, dass Anna – ganz in Schwarz gekleidet – Blumen kauft und zum Friedhof geht. Sie entdeckt auf dem Grab ihres Verlobten eine weiße Rose. In einer Nahaufnahme sieht der Zuschauer ihr fragendes Gesicht; sie befragt den Friedhofsgärtner, der ihr sagt, dass ein Franzose (dabei spuckt er verächtlich auf den Boden) am Grab gewesen sei. In Anna entwickelt sich möglicherweise eine Ahnung, es könnte ein Freund von Frantz aus seiner Studienzeit in Paris sein. Dieser Gedanke wird zu Hause sofort von Frantz Mutter unterstützt (3.22) – in beiden keimt die Hoffnung auf, darüber ein Stück vom verlorenen Frantz zurück zu bekommen. In der darauf folgenden Szene, in der es während des Abendessens klingelt und niemand vor der Tür steht, sieht Anna einen flüchtenden Mann. Auffällig ist, dass der flüchtende Adrien einen extrem langen Schatten in Richtung des Hauses wirft, möglicherweise eine Ankündigung einer anstehenden Bedrohung („Ereignisse werfen ihre Schatten voraus“).
Adrien geht, nachdem Anna ihn auf dem Friedhof am Grab von Frantz beobachtet hat (8.21), in die Praxis von Frantz Vater, um ihm seine Schuld zu gestehen, doch dieser weist ihn, bevor er dazu Gelegenheit hat, barsch zurück. Die Angespanntheit von Adrien wird deutlich durch eine Großaufnahme auf seine verkrampften Hände und seinen gesenkten Kopf. Das Gespräch wird von der Kameraführung zunächst auf Augenhöhe gezeigt; in dem Moment, als der Vater erfährt, dass es sich um einen Franzosen handelt, baut er sich in seiner ganzen Körpergröße vor Adrien auf und benutzt das Bild seines Sohnes quasi als Abwehrschild. „Jeder Franzose ist für mich der Mörder meines Sohnes“, worauf Adrien ihn verzweifelt anschaut (8.45) und sagt: „Sie haben Recht, Herr Doktor, ich war auch Soldat, ich bin auch ein Mörder“ und geht. An dieser Stelle wird deutlich, dass Adrien den festen Willen hat, seine Schuld einzugestehen, aber nicht die Kraft findet, gegen diese barsche Zurückweisung anzu-kämpfen. Anna und vor allem die Mutter sind es, die den Vater überzeugen, Adrien könnte ein Freund ihres verstorbenen Sohnes sein (11.15 Mutter: „Er ist sicher ein Freund von Frantz“).
Nachdem Anna durch einen Brief (11.26) Adrien nach Hause eingeladen hat, wird dieser von der Mutter warmherzig willkommen geheißen. Dies wird verstärkt durch das Halbdunkel der Räume und die durch die Lichtverhältnisse entstehende weiche Kontrastierung. Adrien wird direkt von der Mutter und von Anna durch Suggestivfragen bedrängt (13.44). Er schafft es nicht, diesem Hoffnungsdruck der beiden Frauen die Wahrheit entgegenzusetzen. Nach sei-ner ersten Lüge bricht er in Tränen aus, was von der Mutter und Anna als Ausdruck von Trauer um Frantz gewertet wird (sie dankt ihm für seine Tränen). Die Mutter setzt Adrien durch ihr empathisches Verständnis so stark unter Druck, dass dieser nicht in der Lage ist, aus der Rolle des trauernden Freundes auszubrechen. Die Szene ist sehr emotional (16.02), so dass der Vater den Raum verlässt, was die Mutter mit der Bemerkung kommentiert: „……er wäre lieber an seiner Stelle gestorben…“, worauf Adrien antwortet: „Ich auch“. Damit setzt Adrien sich in seiner emotionalen Betroffenheit auf die Stufe des trauernden Vaters – also muss er ein sehr enger Freund von Frantz gewesen sein. An dieser Stelle ist es erstaunlich, dass weder Mutter noch Anna sich darüber wundern, noch nie vorher von diesem Freund gehört zu haben bzw. sich zu fragen, welcher Art diese intensive Beziehung wohl gewesen sei. Zu stark ist der Wunsch danach, über einen Freund vom verlorenen Frantz ein Stück von ihm zurückzubekommen, dieser Prozess des Hinterfragens setzt bei Anna erst später ein (s. unten Spaziergang, 21.59).
Adrien hat in dieser emotional aufgeheizten Situation keine andere Chance, als sich in die von ihm erwartete Welt hinein zu phantasieren, er rettet sich sozusagen in eine Phantasie-welt, um die Situation aushalten zu können. In dem Moment (17), als er beginnt seine (Not-)lüge über die ‚Freundschaft‘ zu Frantz zu erzählen, wird das Bild in einem weichen Übergang farbig; der Übergang in die farbige Ausgestaltung der Szene wird unterstützt durch tragende Klaviermusik. Sowohl die Mutter und Anna als auch die Zuschauer glauben in dieser Situation an eine authentische Erinnerung, die sich für die Zuschauer erst später aufklären wird.
In der späteren Friedhofsszene (ab 44), in der Adrien Anna die Wahrheit sagt, weil er den psychischen Druck nicht mehr aushält, sagt er auf die Frage von Anna, warum er gekommen sei: „um sie um Vergebung zu bitten“, „um mich zu befreien, um zu erfahren, wen ich getötet habe…“ „Ich wollte gleich die Wahrheit sagen…, Sie glaubten an unsere Freundschaft…, ich habe nicht gewagt zu widersprechen. Dank dieser Lüge habe ich Frantz kennengelernt, seine Familie, sein Zuhause, seine Verlobte…..“. Und später, als Anna fragt, ob der Louvre, der Geigenunterricht alles Lüge sei, sagt er noch: (51) „Ja, weil ich feige bin“ … „und vielleicht, weil es uns guttat – uns allen“.
Als Adrien nach diesem Abend, an dem seine Verstrickung in die Lüge beginnt, nach Hause geht, verabschiedet ihn Frantz‘ Mutter mit den Worten: „Heute Abend war es, als wäre Frantz wieder nach Hause gekommen“ (18.50) und nimmt ihn damit quasi als Sohnersatz an. Durch diese angebotene Nähe ist es Adrien unmöglich, ihr die Wahrheit zu sagen. Dies wird verstärkt durch Anna (19.31): „Sie haben ihnen etwas Gutes getan“. Adrien geht in sein Ho-tel, schaut in den Spiegel und ihm erscheint dort Frantz als sein Ebenbild (19.40).
Bei einem ersten Spaziergang zwischen Adrien und Anna fragt diese „Was war zwischen Ih-nen, eine Frau…?“ Adrien spinnt seine Lüge weiter und antwortet mit „nein, nur Freund-schaft“ (21.5). Er kann die entstehende Nähe, die auf einer Lüge aufgebaut ist, nicht ertragen und springt auf, um zu schwimmen. Als Anna seine Kriegsverletzungen sieht (24.4) und konstatiert „Sie haben sehr gelitten“, erwidert Adrien recht barsch: „Meine einzige Wunde ist Frantz“ (25.3). Diese Äußerung Adriens, die man fast als Liebeserklärung an den toten Frantz deuten könnte, öffnet Anna nicht die Augen – sie sieht gleichsam das, was sie sehen will.
Der Prozess der Annäherung der Hoffmeisters an den „Freund“ ihres toten Sohnes setzt sich immer weiter fort, selbst der Vater durchläuft eine zunehmende Wandlung. Er zeigt Adrien die Geige seines Sohnes, die er metaphorisch als „Herz meines Sohnes“ bezeichnet (28.2), um sie Adrien gleich danach zu schenken, was dieser entsetzt ablehnt. In der sich anschlie-ßenden fiktiven Rückblende (29.30), in der Frantz Geige spielt und Adrien ihn in seiner Haltung korrigiert, wird das Bild wieder farbig… Ozon lässt an dieser Stelle unklar, aus wessen Perspektive diese fiktive Rückblende stattfindet – ist es der Vater, der sich vorstellt, wie der Berufsmusiker Adrien seinem Sohn Unterricht erteilt oder eine erfundene Geschichte von Adrien?
Das Spiel mit der Farbe setzt sich in der nächsten Szene fort (33.00). Adrien erfüllt, nachdem sie gemeinsam Fotos von Frantz angeschaut haben, den Eltern einen Wunsch: er spielt für sie auf Frantz Geige und Anna begleitet ihn auf dem Klavier – so wie sie es früher mit Frantz gemacht hat. Das Bild wird angesichts der gebannt zuhörenden und in diesem Moment innig verbundenen Eltern Hoffmeister farbig – der Zuschauer kann gleichsam in ihren hoffnungs-vollen Gesichtern lesen, was sie denken: ‚Frantz ist zurückgekehrt‘. Adrien hält diese Schein– Idylle nicht aus und bricht mitten im Spiel zusammen, gleichzeitig wird das Bild wieder schwarz-weiß; dadurch wird das idyllische farbige Bild, das man zu gern als wahr ansehen möchte, abrupt zerstört.
Dass Franz wie er selbst Pazifist war, macht Adrien noch bewusster, dass er schuldig ist und er verliert jede Hoffnung, seine Schuld jemals tilgen zu können. Als Anna ihn fragt, ob sie ihn am nächsten Tag sehe, antwortet er: „das nützt doch nichts“! - was Anna in seiner Tragweite nicht versteht und antwortet „Doch, es tut ihnen gut“ „…und mir auch“. In seiner Ratlosigkeit und Verzweiflung lädt Adrien Anna zum Ball ein – sie lächelt und sagt zu.
Als Anna und Adrien zum Ball erscheinen, schlägt Adrien zunächst Feindschaft entgegen („Was will der hier?“ ,35), aber Anna beruhigt ihn „ich bin da!“ Die Szene wirkt entrückt… Mädchen tanzen ganz in weiß miteinander…. Anna fordert Adrien auf, mit ihr Walzer zu tanzen – er lässt sich ein und sie entspannen sich zunehmend, lachen, wirbeln herum – die Ka-mera zeigt ihre entspannten Gesichter, die den Krieg vergessen machen und sie für einen Moment einfach nur junge tanzende Menschen sein lassen. Als Adrien von einigen jungen Mädchen zum Tanzen aufgefordert wird und er widerstandslos zustimmt, setzt Kreutz Anna unter moralischen Druck „Ein Franzose auf einem deutschen Fest! … Sie sollten sich schä-men, Anna“ (37). Anna reagiert sehr selbstbewusst darauf „Gerade wollte ich Ihnen den nächsten Tanz anbieten, wie ich sehe, erübrigt sich das“ und lässt ihn stehen. Auf dem Nachhauseweg sind Adrien und Anna sehr entspannt, Adrien gibt Anna seine Jacke, es ent-steht ein Moment der Nähe, als er geht, schaut sie ihm sehnsüchtig hinterher. Die Kamera, die Adrien von vorne aufnimmt, zeigt sein verzweifeltes Gesicht – der Moment des Verges-sens ist vorbei. Als er auf dem Weg zu seinem Hotel einem Betrunkenen helfen will und die-ser erkennt, dass er Franzose ist, stößt dieser ihn weg und spuckt vor ihm aus (40). Im Hotel grölt eine Gruppe von Deutschen die „Wacht am Rhein“ und Adrien wird von Kreutz angepöbelt…. (44).
Am nächsten Tag erscheint Adrien nicht – wie versprochen – zum Abendessen, Anna läuft eine einsame dunkle Straße zum Hotel entlang, um ihn zu suchen und findet ihn auf dem Friedhof, wo Adrien sie erwartet hat (44). Er kann den inneren Druck der Lüge nicht mehr aushalten und erzählt Anna die Wahrheit (46.50) „Ich habe Frantz getötet, am 15. September 1918“ Als Anna ihn fragt, warum er gekommen sei, antwortet Adrien: “Ich bin gekommen, um sie um Vergebung zu bitten“ und …“um zu erfahren, wen ich getötet habe. Ich wollte gleich die Wahrheit sagen…..Sie glaubten an unsere Freundschaft, ich habe nicht gewagt zu widersprechen. Dank dieser Lüge habe ich Frantz kennengelernt, seine Familie, sein Zuhause, seine Verlobte“. Mit dieser verzweifelten Rechtfertigung versucht Adrien, bei Anna Verständnis zu erwecken für seine ‚Komödie‘ (46), wie er es selbst nennt. Anna ist es zu-nächst unmöglich, Verständnis oder Vergebung für Adrien zuzulassen – zu groß ist der Schock über diese Offenbarung des Mannes, zu dem sie sich sehr hingezogen fühlt. Sie kann es nicht fassen: „Der Louvre, Geigenunterricht, alles Lüge?“ (51) Sie lässt es jedoch nicht zu, dass Schmerz und Enttäuschung sie zerstören. Sie schützt ihre Schwiegereltern, indem sie ihnen eine Lüge auftischt, um ihnen den erneuten Schmerz und Verlust zu ersparen. Damit unterbindet sie die Bereitschaft von Adrien, den Hoffmanns selbst die Wahrheit zu sagen („morgen fahre ich und sage vorher alles seiner Familie“ (50), und belügt auch ihn („Ich habe ihnen alles gesagt…“. (53)
Beim Abschied am Bahnhof (54) verweigert Anna Adrien, ihr zu schreiben und entzieht sich jeder Berührung. Die Kamera zeigt Anna, wie sie voller Schmerz zurückgeht, und dann den Zug mit dem verzweifelten Adrien, der in eine ungewisse Zukunft fährt. Diese Metapher wird später noch einmal aufgenommen.
Im Zentrum des zweiten Teils des Films ‚Frantz‘ steht vorrangig Anna in Paris bei ihrer Suche nach Adrien. Dieser Teil beginnt mit der Bahnhofsszene, als die Hoffmanns Anna zum Zug bringen (1.10). „Grüß Adrien und sag ihm, dass wir ihn erwarten“, sagt die Mutter und formuliert damit ihre Erwartung an Anna. Die umgekehrte Zugmetapher (Anna fährt mit dem Zug in die Zukunft und die Eltern bleiben zurück, 1.11) deutet darauf hin, dass Anna ihren eigenen Weg gehen wird. Bei ihrer Suche nach Adrien wird der Film heller, die Sonne scheint häufiger, ihr Gesicht wird offener… Als sie Adrien schließlich im Chateau seiner Mutter findet und Anna ihre Lüge weiter fortspinnt (die Hoffmanns hätten ihm verziehen 1.27) scheint der Nähe mit Adrien nichts mehr im Wege zu stehen – diese Erwartung wird unterstützt durch den gemeinsamen Spaziergang im Schlosspark, auf dem beide sich ihren vergangenen Todeswunsch gestehen und Anna auf die Frage, ob sie mittlerweile schwimmen könne, sagt: „Nein, ich habe auf Sie gewartet“ 1.29).
Doch die Hoffnung auf weitere Nähe zerplatzt jäh, als Anna Fanny, Adriens Verlobte, ken-nenlernt (1.30). Als Anna abends bei der Hausmusik einen zärtlichen Blick zwischen der singenden Fanny und dem Geige spielenden Adrien bemerkt, bricht sie abrupt das Klavierspiel ab und flüchtet in ihr Zimmer (1.35). Dem ihr nachfolgenden Adrien gesteht sie auf die Frage, ob sie an Frantz gedacht habe: „Nein, an Sie“ und „Sie verstehen nichts“ (1.36). Einem sich daraufhin anbahnenden Kuss entzieht sich Adrien und lässt die verzweifelte Anna zurück. Als Adrien am nächsten Morgen Anna zum Zug bringt, erfährt sie von ihm die Geschichte zu Fanny: „Meine Mutter will diese Heirat“…“zur Beruhigung“… “Fanny ist tapfer. Sie hat mich immer geliebt“ (1.40). Adrien beugt sich also dem Willen seiner Mutter und verzichtet da-mit auf ein mögliches Leben mit Anna. Er stellt sich aber auch seiner Verantwortung für Fan-ny, die ihn immer liebend begleitet hat, vor allem in seiner schwersten Phase, als er in seiner Verzweiflung den Platz von Frantz einnehmen wollte, weil er mit der Schuld an seinem Tod nicht zurechtkam (s.1.33).
Nach einer innigen Umarmung beim Abschied am Bahnhof sagt Anna: „Zu spät“, wissend, dass es ein endgültiger Abschied sein wird. „Seien Sie glücklich“ (1.42), sagt Adrien voller Trauer und nimmt Bezug auf die Zeilen aus Frantz letztem Brief; wieder taucht die Zugmeta-pher auf. Dieses Mal bleibt Adrien einsam zurück, und Anna fährt mit dem Zug in eine ungewisse Zukunft. Sie zerbricht daran allerdings nicht, sondern schreibt (1.46) – ihre Lüge weiterlebend an die Hoffmanns „Ich bin glücklich“…..und habe „wunderbare Augenblicke mit Adrien“; „ich weiß noch nicht, wann ich zurückkomme“.
Anna hat sich also im Unterschied zu Adrien für ein neues, ungewisses Leben entschieden; dies zeigt die Schlusssequenz im Louvre vor dem Bild „Der Selbstmörder“ sehr deutlich. Der Zuschauer ahnt, dass Anna die dunkle Phase ihres Lebens überwunden hat und bereit ist für Neues.
Adrien dagegen ist endgültig in sein altes Leben zurückgekehrt, indem er Anna und die Chan-ce auf ein neues Leben loslässt und sich dem Willen seiner Mutter, der Loyalität zu Fanny sowie den mit seinem adligen Leben verbundenen Konventionen beugt. Die Lüge Annas, Frantz‘ Eltern hätten ihm verziehen, sind ein brüchiges Fundament für sein zukünftiges Leben. Die große Trauer beim Abschied von Anna und das Bewusstsein, mit der aufgeladenen Schuld, einen unbewaffneten Pazifisten getötet zu haben, weiterleben zu müssen, sind eine schwere Bürde für seine Zukunft – im Gegensatz zu Anna ist es Adrien jedoch unmöglich, sich seinen Zwängen und seiner gefühlten Verantwortung zu entziehen.