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HARRY DEAN STANTON UND DAVID LYNCH (Bernd Heinen)

Modernes amerikanisches Kino als Bild einer Angst, die sich von der Angst vor dem Tod befreit

„Letztlich ist alles unwichtig. Das meine ich weder negativ noch zynisch noch nihilistisch. Alles vergeht! Das Leben ist wie ein Traum, es dauert nur eine bestimmte Zeit, und die vergeht (Harry Dean Stanton).

Gegenstand dieser Untersuchung ist der letzte Film von Harry Dean Stanton „Lucky“, der seine Zen-buddhistisch geprägte Weltsicht auf vielen Ebenen reflektiert.

Harry Dean Stanton (1926-2017) war einer der wichtigsten und eigenwilligsten Nebendarsteller des amerikanischen Kinos, er brachte es auf fast 250 Filme und Serienepisoden. Er entwickelte im Laufe seiner langen Karriere in Hollywood eine Unmittelbarkeit und immer wiederkehrende Präsenz seines Spiels, die sich von vielen anderen Nebendarstellern unterschied. Er war eine „Institution“. Auch die Regisseure des „New American Cinema“, die parallel zur „Nouvelle Vague“ in Frankreich Film und Kino revolutionierten, besetzten Stanton sehr häufig. In zwei Filmen spielte er die Hauptrolle: „Paris, Texas“ (1984) von Wim Wenders, wo er auf der Suche nach seiner Familie durch die Wüste läuft, und in der zartbitteren, ironisch-humorvollen Hommage an den im Lauf der langen Jahrzehnte zur Kultfigur gewordenen Harry Dean Stanton: „Lucky“ (2016). Eine wichtige Hauptfigur in diesem Film ist David Lynch, ebenfalls jahrelang „Kult“, ein Avantgardist, Klassiker des postmodernen Kinos, Regisseur surrealer unheimlicher Traumwelten und dunkler psychischer Abgründe. Der „Lynchismus“ (Georg Seeßlen)1) stellt in Lucky neben der Wüste des amerikanischen Südwestens mit seiner Western-Atmosphäre, Luckys ritualisierten Tagesablauf und den von einem lebenspraktischen Zen inspirierten Gesprächen, die zentrale Metaebene des Films dar.

DER ERSTE AUFTRITT VON DAVID LYNCH ALS HOWARD (14:27)

Lynch kommt in weißem Anzug mit hellem Hut und rotem Halstuch von rechts hinten in die ziemlich dunkle Elaines Bar. Er setzt sich an die Theke neben Lucky, der ihn als seinen Freund Howard begrüßt (in Lynchs vorletztem Film „Inland Empire“, 2006, spielt Stanton einen Regie-Assistenten ebenfalls mit Namen Howard). Er will was „Starkes“ trinken. Howard berichtet von seinem Drama: seine Landschildkröte „Präsident Roosevelt“ ist verschwunden, sie sei 100 Jahre alt und habe ihre Flucht genau geplant. Sie überlebte sogar zwei von Howards Frauen. Er habe sein ganzes Territorium abgesucht, die Landschildkröte („mein bester Freund“) sei aber nicht auffindbar. An der Theke beginnt eine Diskussion über die seelische Bedeutung einer Mensch-Tier-Freundschaft. Lucky gerät sofort mit Pauli in Konflikt, denn für ihn ist die Seele nicht existent, sondern nur das „Nichts“. „Sie existiert nicht“, kontert er routiniert. „Was, Freundschaft?“ wird gefragt - „Nein, die Seele.“

Mit dem Erscheinen von David Lynch wird der Narration des Films eine philosophisch und psychoanalytisch determinierte Tiefenebene einbezogen. Die Selbstreferenz des Kinos und die Zitatenlust der Postmoderne werden in Form der Jahrzehnte langen Freundschaft Stanton/Lynch aktiviert. Mit Howard wird der Kosmos der David-Lynch-Filme für diesen letzten Stanton-Film in Szene gesetzt.

Der erste Kontakt zwischen Lynch und Harry Dean war ein 22minütiges Video mit dem Titel „The Cowboy and the Frenchman“ von 1988. Ein Video, das vom Versagen von Sprache und Missverständnissen handelt, eine Komödie, die aber auch ein Western ist. Stanton spielte dann im furiosen, sehr gewalttätigen „Wild at Heart“ (1990) einen dubiosen Privatdetektiv, der im Auftrag einer Mutter ein Liebespaar beschatten und auseinanderbringen soll. Dieser Film ist eine erschütternde, wilde und traumatische Reise durch die „Außenwelten der amerikanischen Innenwelt“ (Norbert Grob)2). Weiter spielte er in den verschiedenen Fassungen von „Twin Peaks“ und in der letzten 5-teiligen Fernsehfassung von 2015, war er ein Campingplatz-Besitzer. Im völlig untypischen Lynch-Film „The Straight Story“ (1999) ist er der kranke Lyle, der von seinem Bruder nach vielen Jahren erstmals wieder aufgesucht wird. Beide hatten sich zerstritten, jetzt soll nach zehn Jahren eine Versöhnung versucht werden. Die Reise zu Lyle findet mit einem durch Motor verstärkten Rasenmäher statt und führt quer durch die USA. Stanton gehörte zu Lynchs „Stock Company“, einer Besonderheit des amerikanischen Kinos. Hier verpflichtet ein Studio häufig einen Regisseur, der mit seiner Stammtruppe von vertrauten Technikern und bekannten Schauspieler*innen eine Garantie für eingespielte Teams geben kann. Berühmt wurden die Stock Companies von John Ford, Alfred Hitchcock oder Howard Hawks. Zwischen Lynch und Stanton hatte sich bei diesen Dreharbeiten eine feste Freundschaft entwickelt, für die sich Lynch durch seine intensive Teilnahme an „Lucky“ bedankte. In den Dialogen zwischen beiden entfaltet sich eine abgeklärte Komik, man kann den Spaß und die gegenseitige Vertrautheit in ihren gemeinsamen Szenen fühlen und ansehen.

DER ZWEITE AUFTRITT VON DAVID LYNCH (33:15)

Lucky sitzt wieder auf seinem Eckplatz in Elaines Bar an der Theke und trinkt seine abendliche Bloody Mary. Es ist wieder relativ dunkel, nur eine kleinere Lampe leuchtet, die die Gesichter der vor und hinter der Theke Diskutierenden aus der allgemeinen Schwärze heraushebt. Dann hört man die Stimme von Howard aus dem Hintergrund; er sitzt mit dem Notar Bobby Lawrence an einem Tisch. Lucky erkundigt sich nach dem Inhalt des Gesprächs: es geht um eine Lebensende-Planung, Howard will bereit sein für alles Unerwartete, sein Vermögen sollen seine geliebten Hinterbliebenen bekommen. Die hat er nicht, meint Lucky. Aber Howard klärt auf: alles ist für den momentan verschwundenen „Präsident Roosevelt“ gedacht, seine geliebte Landschildkröte, es soll Vorsorge sein für die Zeit nach seiner Rückkehr. Parallel zu diesen rhetorischen Erklärungen von Howard eskaliert der Konflikt zwischen Lucky und dem Anwalt. „Wieso fressen Haie keine Anwälte? Eine dreckige Hand wäscht keine andere“. Lucky unterstellt dem Anwalt, nur an Howards Geld interessiert zu sein. Er versucht eine körperliche Auseinandersetzung anzuzetteln, die nach Intervention von Elaine bitte vor der Türe stattzufinden hat. Lawrence und ein erregter Howard springen auf. Er vermisse die Persönlichkeit seiner Landschildkröte, die einmal kleiner als ein Daumen gewesen sei und sich aus ihrem Loch mit ihrem Panzer in die „Scheißwelt“ aufgemacht habe. Ein paar Dinge im Universum seien größer als alle anderen – und dazu gehöre auch eine Landschildkröte. „Ich denke nach über die Last, die er auf seinem Rücken die ganze Zeit rumschleppen muss. Ein paar Dinge auf der Welt sind größer als wir, und dazu gehört eine Landschildkröte“. Er regt sich auch über Harry Dean auf, der ständig Land- und Meeresschildkröte durcheinander wirft (Tortoises/Turtles).

DIE LANDSCHILDKRÖTE „Präsident Roosevelt“

Im Buddhismus glaubt man an die Wiedergeburt und dass sich im Panzer der Schildkröte verschiedene Seelen auf dem Weg ins Nirwana befinden. Sie steht für langes Leben, für Weisheit und Klugheit, Urvertrauen und Bodenständigkeit, Ruhe und Langsamkeit. Natürlich sind dies alles auch Eigenschaften von Lucky, der ausdauernd, langsam und unverwüstlich ist. Der Film Lucky ist auch ein kleines „Roadmovie“ für diesen besonderen Präsidenten Roosevelt, obwohl sie nur am Anfang und am Ende auftaucht. Zu Beginn kriecht sie von der Bildmitte durch die Wüste nach links, in der letzten Szene zurück nach rechts wieder bis zur Mitte. Ihr Weg ist klar begrenzt, trotz der Flucht, genauso klein und ritualisiert wie der täglich sich wiederholende Rhythmus von Lucky. Nachdem Lucky dem Anwalt fünf Minuten Zeit für eine Duellvorbereitung eingeräumt hat, geht er nach draußen, um zu warten und vor allem um nach dem anstrengenden Dialog eine Zigarette zu rauchen. Pauli kommt ebenfalls mit Zigarette zu Lucky, auch um ihn von einer Auseinandersetzung abzubringen. Das gelingt: „Gut ich verschone ihn“. Dann sagt Pauli: „Geh nach Hause Lucky“. Pauli wird wie in Trance angezogen von einigen Hütten, die plötzlich hinter der Bar stehen, grell rot und grün beleuchtet sind, mit in der Lautstärke sich steigender, rhythmischer Punkmusik. Auch Lucky kann der Anziehungskraft nicht widerstehen. Zunächst steht er vor dem offenen Eingang, die Kamera bleibt hinter ihm stehen, geschockt und gleichzeitig angezogen von den Räumen, die von extremem Flackerlicht beleuchtet werden. Lucky geht hinein, die Wände und Decken sind grell angemalt, ein psychedelischer Effekt wird erzeugt, die Kamera schneidet von der Vorder- auf Seiten- und Rückensicht von Lucky, dann in der gleichen Reihenfolge noch mal in Nahaufnahme. Während die Musik sich weiter steigert, geht Lucky immer tiefer hinein auf eine Tür mit grünem Exit-Schild zu. Dann bleibt er stehen, grün wird zur dominanten Farbe. Die Arbeit der Kamera, das Spiel greller, divergierender Farben, die radikale, schneidende Musik, die Montage: die formalen Mittel des Kinos werden hier ganz im Sinne des postmodernen Oeuvres von David Lynch zur erzählerischen Instanz. Dann Schnitt: Lucky wacht aus einem Traum auf. Eine Traum-im Traum Sequenz oder schon Transzendenz-Bilder?

Der Film gibt in diesen wenigen Szenen einen Einblick „in Nuce“ in die Ästhetik des „Lynchismus“ zwischen den Alpträumen des „Eraserhead“ in ihrer Ängste vermittelnden Rätselhaftigkeit und suggestiven Kraft bis zur großen, nicht auflösbaren Trilogie „Lost Highway“, „Mulholland Drive“ und „Inland Empire“ (die beiden ersten Filme dieser Trilogie sind seine „Meisterwerke“). Es geht bei Lynch um das Unbewusste und Unterbewusste, um unterdrückte oder offene Gewalt, um die Libido, das Irrationale, das Verschwiegene. Die Filme sind häufig verschlüsselte, magische Autobiografien und mystische Amerika-Bilder, es sind Film-im Film-Filme. Sex, Gewalt, Schrecken und Schock sind bei Lynch Symbole einer aus den Fugen geratenen Welt. In diesen Szenen außerhalb von Elaines Bar gibt der Film „Lucky“ seinem Darsteller Howard etwas von Dankbarkeit dafür, dass dieser bei der Hommage an den 90jährigen Harry Dean in seinem letzten Film intensiv teilgenommen hat. Der Film Lucky gestaltet hier eine großartige Essenz vieler Filme von David Lynch, die eben keine Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit kennen und das Ineinander von Lust und Angst zelebrieren.

DER DRITTE AUFTRITT VON DAVID LYNCH (1:10:02)

„Einer von Euch wird mich verraten“, mit diesem biblischen Satz kommt Lucky von der mexikanischen Geburtstagsfeier in die Bar. „Wir werden dich alle verraten“ antwortet Pauli. An der Theke sitzt auch Howard, wieder im weißen Anzug mit Hut. Er berichtet, dass „Präsident Roosevelt“ noch nicht zurück sei, dass er aber ihn verstehe und nicht mehr sein persönliches Interesse in den Mittelpunkt stellen, sondern die Gedanken der Schildkröte verstehen wolle. Er akzeptiere jetzt seine Fluchtpläne, Präsident Roosevelt habe ihn ja nicht verlassen, sie wisse ja, wo er zu finden sei. Deshalb lasse er auch seine Türe immer geöffnet.

Dann will sich Lucky in der Bar eine Zigarette anzünden, was wegen des Rauchverbots zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Elaine führt, die von Howard und allen anderen mit höchstem Interesse verfolgt wird. Lucky sagt dabei: „Ich kenne die Wahrheit und nur die Wahrheit zählt. Die Wahrheit des Universums wartet, das Alles irgendwann vergehen wird, in das Schwarze, in die dunkle Leere hinein. Niemand ist verantwortlich, was uns bleibt ist das dunkle Nichts. Wir gehen dann mit einem Lächeln“. Lucky geht zum Ausgang der Bar, dreht sich nochmal um und schenkt uns ein wunderschönes Lächeln. Hier wird die vorher von einem Veteranen des Zweiten Weltkriegs erzählte Geschichte vom philippinischen Mädchen, das mit einem lächelnden Gesicht in den Tod geht, wiederaufgenommen. Der Tod zaubert ein Lächeln in Luckys Gesicht, es geht unmittelbar in die Kamera und in den Augen und die Empathie der Zuschauer. Der Barkeeper und Howard stoßen mit einem Whisky an, Elaine und Pauli haben Tränen in den Augen. Der größte und berühmteste von Hollywoods Nebendarstellern verabschiedet sich öffentlich und selbstbestimmt von der Welt.

DER NEBENDARSTELLER HARRY DEAN STANTON

Es sind keineswegs nur B-Pictures, denen Harry Dean Stanton seine unverwechselbare Physiognomie geliehen hat. Deswegen hier eine kleine Auswahl seiner Filme, die allesamt zentrale Werke der amerikanischen Filmgeschichte darstellen:

Der falsche Mann (Hitchcock); Das war der Wilde Westen (John Ford u.a.); Für eine Handvoll Dollar (Sergio Leone); Ritt im Wirbelwind (Monte Hellman); Der Unbeugsame (Stuart Rosenberg); In der Hitze der Nacht (Norman Jewison); Asphaltrennen (Monte Hellman); Pat Garrett jagt Billy the Kid (Sam Peckinpah); Der Pate II (F.F. Coppola); Duell am Missouri (Arthur Penn); Alien I (Ridley Scott); Die Klapperschlange (John Carpenter); Einer mit Herz (F.F. Coppola); Repoman (Alex Cox); Fool for Love (Robert Altman); Die letzte Versuchung Christi (Martin Scorsese); Das Versprechen (Sean Penn); Cheyenne – This Must be the Place (Paulo Sorrentino).

1)
1. Seeßlen, Georg (2007): Von der Kunst zum Kino und Zurück. In: epd Film, H.4, S.20-25
2)
Grob, Norbert (2002): Zwischen Licht und Schatten: Essays zum Kino. St. Augustin: Gardez, S. 130 u. s.150-151
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