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Lucky von John Carroll Lynch (2017)

Luckys Wahrnehmung und Akzeptanz der Endlichkeit im Kontext der abendlichen Bargespräche
(Myrto Larsen)

„Einer von euch wird mich verraten“.1) Flapsig beginnt Lucky die letzte Konversation des nach ihm benannten Films. Zitate oder Sprüche gehören zur Persönlichkeitsdefinition der zentralen Filmfigur. Der Film begleitet seinen Hauptdarsteller über drei (vier) Tage und zeigt dabei dessen täglich sich wiederholenden Tagesablauf. Das Leben des Protagonisten ist geprägt durch diese Routine, die ihm ein Gefühl für Sicherheit und Normalität vermittelt. Abrupt wird dieses Lebenskonstrukt durch einen Ohnmachtsanfall unterbrochen und wirft die Filmfigur aus der geistigen Komfortzone heraus. Er muss sich mit der Endlichkeit des Daseins intensiver befassen.
Zu seiner täglichen Routine gehört der abendliche Besuch in Elaines Bar. Hier trifft er Freunde und Bekannte, um den Tag mit einer Bloody Mary zu beenden. Als alleinlebender alter Mann pflegt er die Kommunikation mit anderen an mehreren wiederkehrenden Orten. Man kennt sich und auch seine Marotten; die Kommunikation ist liebevoll aufmerksam und trotz philosophischer Hintergründe ohne Schwere. Es ist meistens ein Gespräch unter Männern, bei dem Lucky sparsam mit seinen Gefühlen umgeht.

1. Beschreibung (TC 01:11:44 bis 01:16:28)

Lucky betritt die Szene als letzter und schreitet zielstrebig auf seinen angestammten Platz an der Theke zu. Mit einem Bibelspruch auf den Lippen begrüßt er die versammelten Gäste und sorgt für Heiterkeit. Sein Gang ist beschwingt und fröhlich, denn er hat einen angenehmen Nachmittag auf einer mexikanischen Geburtstagsfeier verbracht. Lucky trägt wie immer zu Jeans ein kariertes Hemd, nur dieses Mal ist es nicht aus Flanell. Der Stoff hat einen seidenen Glanz, er hat sich für das Fest in Schale geworfen. Sein Freund Howard bemerkt die optische Veränderung sofort. Lucky beendet seinen Eintritt in die Szene mit einem lebhaften Bericht zur Fiesta am Nachmittag. Er hat sogar leckeren Flan gegessen. Zum ersten Mal nimmt er in der diegetischen Welt bewusst Nahrung zu sich. Während der gesamten Filmhandlung hat er nur Kaffee mit viel Milch, Bloody Marys und eine Menge Zigaretten konsumiert.

Die Normalität eines Kneipenabends nimmt ihren Lauf und dabei wird Howard aufgefordert, über den Verlust seiner Landschildkröte zu erzählen. Inzwischen abgeklärt kann er ihren Verlust akzeptieren und seine persönlichen Gefühle neu beschreiben. Sein neuer Blickwinkel gewährt der Schildkröte die Freiheit zu handeln, dabei hat sie nicht ihn, den Freund verlassen, sondern etwas Wichtiges zu erledigen. Sobald sie ihr Ziel erreicht hat, wird sie, wenn sie möchte, wiederkommen. Die Tür bleibt für sie geöffnet.

Schweigsam und konzentriert hört Lucky seinem Freund zu, den Blick ihm zugewandt und doch in die Ferne blickend. Mit einem Toast auf Präsident Roosevelt, die Schildkröte endet der erste Teil dieser Szene. Die Szene folgt der klassischen Dramaturgie. Ein Konflikt kündigt sich an, indem Lucky seine Zigarettenschachtel herausholt und eine Zigarette rauchen möchte. Gleichzeitig kommt die Kneipenwirtin Elaine mit einem Tablett schmutziger Gläser an die Theke.

Selbstverständlich ist das Rauchen in der Kneipe verboten, auch wenn Lucky 1968 in dieser Kneipe noch geraucht hat. Der nun folgende Dialog zwischen Wirtin und Lucky entwickelt sich zu einer Auseinandersetzung, um die grundsätzliche philosophische Frage, wer die Autorität besitzt, die Regeln zu bestimmen. Die Wirtin besteht auf ihrem Hausrecht. Lucky widerspricht ihr und kündigt das baldige Brechen dieser Regel an. „Irgendwann in diesen Tagen werde ich mir hier eine anstecken“.

Es ist der Kampf eines Sturkopfs gegen die Regeln der Gesellschaft. Das Aggressionspotenzial der Kommunikation steigert sich und findet auch seinen Ausdruck durch die Bewegung im Raum. Lucky verlässt seinen Sitzplatz und positioniert sich vor der Ausgangstür. Die Wirtin folgt seiner Bewegung indem sie seinen Weg durch eine Körperdrehung begleitet, einen Schritt auf ihn zugeht und dabei den Blickkontakt hält. Die Kontrahenten stehen sich gegenüber. Die Körper angespannt, die Gesichter leicht im Zorn verzerrt. Der Disput weitet sich durch Elaines verbalen Angriff weiter aus, indem sie nicht nur das jetzige Verhalten Luckys anklagt, sondern eine Verbindung zu seinem Verhalten in der Vergangenheit aufzeigt. Sie unterstreicht damit Luckys Unfähigkeit, Grenzen oder Regeln einzuhalten. Vom Hörensagen weiß sie, dass Lucky schon aus Eves Etablissement hinausgeworfen wurde, weil er auch dort geraucht hat. Sie ist der Meinung, Besitzerin dieser Wahrheit zu sein, dieses Recht wird von Lucky vehement verneint.

Es ist ein Angriff auf die Integrität seines Verhaltens, den Lucky nicht so hinnehmen kann. Die Wahrheit ist nach Lucky ein persönliches Gut. Eine Sache, bei der jeder einen anderen Standpunkt einnimmt und diese können sich nicht überschneiden. Für Lucky hat die Wahrheit zwei Dimensionen. Eine persönliche und eine allumfassende. Die Wahrheit des Universums ist für alle gleich. Das Leben endet für alle und danach ist das „Nichts“. Eine Tatsache, mit der sich jeder auseinandersetzen muss und an der er nichts ändern kann. Diese Tatsache ist auch Luckys Erkenntnis zum Ende des Films. Der Ausweg aus der Endlichkeit des Daseins ist seine Akzeptanz mit einem Lächeln auf den Lippen. Die Kumpels in der Kneipe sind sich der Tragweite seiner Aussage bewusst. Die leichte Trauer in den Tränen der Wirtin geht über in die Normalität des Lebens. Man wendet sich den normalen Handlungen in einer Kneipe wieder zu, nachdem kurzfristig das Kneipenleben zu erliegen gekommen ist.

Lucky beendet sein Statement an der Tür stehend mit einem Lächeln auf den Lippen und er macht seine Drohung wahr. Er zündet sich eine Zigarette an und verlässt danach die Kneipe. Aus dem Off ertönt seine Leitmusik (Red River Valley von Marty Robbins), das Leben geht lächelnd weiter bis das Nichts und die Wahrheit des Universums das Individuum einholt.

2. Analyse und Interpretation

Die Handlung in Elaines Bar findet am Abend statt. Die Dunkelheit des Raumes strahlt zunächst eine gewisse Gemütlichkeit aus. Es ist ein Raum des geselligen Beisammenseins, man genießt das Bier oder den Cocktail zum Ende des Tages. Die Menschen kennen sich, die Sitzplätze sind den Gästen zugeordnet. Die Nähe zum Nachbarn definiert des Weiteren auch ihre soziale Nähe. Lucky sitzt neben seinem Freund Howard. Pauli und Elaine suchen immer wieder körperliche Nähe, die sie als Paar zeigt. Die handelnden Personen gruppieren sich um die Theke. Alle weiteren anwesenden Gäste befinden sich im verschwommenen Hintergrund. Sie haben für die Handlung keine Bedeutung. Später unterstreicht der dunkle Raum die gewichtigen Aussagen. Die Dunkelheit erlaubt mit Hilfe von punktuellem Licht eine Konzentration auf die Gesichter und deren Mimik. Die Beleuchtung unterstreicht die Aussagen der Personen. Die Gefühle kommen klarer zur Geltung, das Wahrheitsnarrativ ist Figurenbezogen.

Der Aufbau der Szene und des ganzen Films ist dreiteilig und lehnt sich an ein klassisches Drama an. Der erste Teil, indem die Personen an der Theke sitzen, befasst sich verbal mit der Frage der Freiheit und der Akzeptanz dieser Freiheit. Diesen Part übernimmt Luckys Freund mit seinem Statement zum Verlust seiner Schildkröte. Howard wird von Pauli aufgefordert, über seine Schildkröte zu berichten. Ruhig und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen berichtet er von seinen Gedanken. Die Gruppe nimmt still und konzentriert an seinen Ausführungen teil. Die ruhige Atmosphäre unterstreicht die Wichtigkeit der Aussage. Howard hat mit Hilfe ihrer Umdeutung sich endgültig von einer schmerzhaften Situation getrennt. Der Verlust der Schildkröte wird dadurch nicht mehr als eine persönliche Kränkung empfunden.

Mit einem Prost auf Präsident Roosevelt, die Schildkröte, unterstreicht Lucky das Ende des Monologes. Fast alle Gäste im Raum gehen auf den Toast ein, auch diejenigen, die nicht an der Handlung teilhaben. Es ist ein Zeichen der Würdigung, der Leistung eines Menschen, der seinen Schmerz überwinden konnte. Außerdem ist es der Ausdruck von Nähe in dieser sporadischen Gemeinschaft.

Mit dem Toast übernimmt Lucky die Handlung. Als Dauerraucher greif er automatisch zur Zigarette und will sich eine anzünden. Dieses renitente Verhalten gehört zu seiner Figur und wurde schon mehrmals im Verlauf des Films gezeigt. Bis jetzt hatte dieses Verhalten keine dramatischen Folgen. In dieser Situation betritt Elaine die Bühne. Als Wirtin muss sie auf diese Provokation reagieren. Auch wenn Lucky früher in dieser Kneipe geraucht wurde, ist dieses fünfzig Jahre später trotzdem nicht erlaubt. Ein regelmäßiger Gast seit über fünfzig Jahren müsste es eigentlich wissen, außerdem hängt ein Nichtraucher-Plakat direkt und unübersehbar neben der Ausgangstür. Dieses Verhalten könnte Luckys Ritualen gehören bevor er die Kneipe zum Rauchen verlässt. Er verlässt seinen Sitzplatz und geht zur Tür. Würde er dabei nicht die Drohung aussprechen, sich in baldiger Zukunft doch eine Zigarette anzuzünden, wäre der Konflikt abgewendet worden.

Lucky will dieses Mal aber den Konflikt nicht beenden. Er steht vor der Ausgangstür, wie auf einer Bühne und alle Blicke sind auf ihn gerichtet. Er hat das Bedürfnis etwas Wichtiges zu sagen. Der Disput zwischen Elaine und Lucky beginnt mit der Definition von Regeln, in diesem Fall dem Rauchverbot und dem Recht, Regeln festzulegen. Elaine koppelt ihr Recht Regeln auszusprechen mit ihren Eigentumsverhältnissen. Für Lucky ist Eigentum subjektiv und willkürlich, somit fehle ihr die Macht, Regeln zu definieren. Elaines Argumentation ist im Augenblick nicht weiter erfolgversprechend, deshalb geht sie zum Angriff über. Sie bezeichnet Luckys Welteinstellung als Attitüde und gibt ihr dadurch eine lächerliche Dimension. Außerdem outet sie ihn als Wiederholungstäter. Er hat ja auch in Eves Etablissement und hat seitdem Hausverbot. Diesen verbalen Angriff unterstreicht sie körperlich, indem sie einen Schritt auf Lucky zugeht und eine Kampfpose annimmt.

Schlagartig ändert sich die Thematik, die Definition von Wahrheit tritt in den Vordergrund. Dabei geht es vor allem darum, wer die richtige Wahrheit besitzt und wer nur der Meinung ist, die Wahrheit zu besitzen. Lucky erarbeitet im Dialog mit Elaine und mit Hilfe einiger Einwürfe der restlichen Figuren seine zwei Dimensionen der Wahrheit: einerseits die subjektive Wahrheit, die zu keinem Augenblick von einer anderen Person geteilt werden kann, anderseits die allumfassende Wahrheit des Universums, die jedes Individuum und jede Sache des Diesseits betrifft, die Wahrheit der Endlichkeit und das darauffolgende Nichts. Diese allumfassende Wahrheit zu erkennen und zu akzeptieren ist die endgültige Leistung des Protagonisten in diesem Film.

Die Figuren in dieser letzten Kneipenszene spiegeln den Protagonisten und stehen ihm zu Seite, damit er in der Lage ist, seine tiefgreifenden Überlegungen darzulegen. Die Position seines Freunde Howard ist die, ihm die Tür zu öffnen, indem er den Begriff der Freiheit ins Spiel bringt. Außerdem steht er ihm während des Disputs positiv zur Seite. Sein Rauswurf aus Eves Bordell ist für ihn eine tolle Sache und kein Regelbruch. Er akzeptiert die Erkenntnis seines Freundes als allumfassende Wahrheit, mit der jeder sich auseinandersetzen muss. Den Einwurf Paulis „wie gehst du damit um“ verbessert Howard mit „wie gehen wir damit um“?

Pauli steht als Geliebter Elaines an ihrer Seite. Er versucht zu vermitteln, damit die Eskalation nicht weiter voranschreitet und zum Ende bietet er ihr Trost und Anlehnung. Elaine versteht Luckys Ausführungen nicht, aber sie erkennt die Tragweite der Aussage. Ihre Tränen und ihr Abwenden zeigen ihre Emotion der Trauer und die Erkenntnis, dass ihr Gegenüber sein vielleicht baldiges Sterben akzeptiert hat. Sie weiß, dass das Rauchen keine aggressive Handlung Luckys mehr darstellt, sondern nur Zeichen seiner Befreiung. Durch ihr spöttisches Auflachen akzeptiert sie die Befreiung eines Individualisten oder noch deutlicher eines Spinners. eines liebevollen Spinners.

Die Aufgabe des Barkeepers ist es, das finanzielle Geschäft am Laufen zu halten, in diesem Fall auch die Handlung voranzutreiben - und noch wichtiger - für die Allgemeinheit abzuschließen. Der erste Akt wird mit dem Trinkspruch auf Roosevelt beendet. Im Hauptteil bringt er die erweiterte Dimension der Wahrheit als Sache ins Spiel, um damit auch allen anderen die Bedeutung dieser neuen Deutung aufzuzeigen. Zum Ende des Hauptteils steht Luckys Erkenntnis im Raum und der Ausdruck der Akzeptanz durch die Gruppe tritt in den Vordergrund. Es ist alles gesagt, was gesagt werden sollte. Der Barkeeper schenkt Howard und sich selbst einen Schnaps ein. Man prostet sich zu, wendet sich dabei von der vorherigen Handlung ab und schließt diese mit den Gesetzmäßigkeiten einer Bar ab.

Die Geräuschkulisse einer Bar ist wieder wahrnehmbar, man ist zur Normalität übergegangen. Der Disput davor war durch fühlbare Stille im Raum gekennzeichnet.

3. Fazit

Der Film Lucky ist eine Hommage an den Hauptdarsteller Harry Dean Stanton. Er zeigt die Lebenseinstellung eines Mannes zum Ende seines Lebens. Liebevoll zeichnet der Regisseurs John Carroll Lynch, bei seiner ersten Regie, den Charakter seines Hauptdarstellers. Stantons Lebensfreundes David Lynch als Howard bereichert den Film mit seiner Präsenz und wertet in dadurch auf. In einer Traumszene ist auch seine surrealistische Handschrift zu erkennen. Luckys Weg zu Erkenntnis beginnt mit der Routine in der Normalität des Alltags. Diese steht für die Kraft des Machbaren. Sein Entsetzen nach dem Zusammenbruch zeigt die Hilflosigkeit und die Machtlosigkeit des Einzelnen sein Schicksal zu verändern. Letztendlich gewinnt er seinen inneren Frieden zurück und akzeptiert die unausweichliche Wahrheit des Universums.

Die Aufgabe der letzten Szene ist es, diese Akzeptanz zu verdeutlichen. Auch hier findet sich Dreiteilung als Struktur der Handlung wieder.

Die Regeln stehen für das Diesseits und den Glauben an die Macht das Dasein zu beherrschen. Die Wahrheit steht für den Kampf des Einzelnen, seine Endlichkeit zu akzeptieren.

Das Lächeln ist der Ausdruck der Akzeptanz der Endlichkeit und damit auch die Befreiung von den eigenen Ängsten. Es schenkt die Freude und Freiheit zum und am Leben zurück. Lucky kann befreit und rauchend die Kneipe verlassen. Er hat seinen inneren Frieden gefunden. Die Musik aus dem Off unterstreicht zum leichten Lächeln seiner Lippen die Leichtigkeit des Abschiedes.

Das Zitat aus der Bibel zu Beginn der Szene zeigt humorvoll die Einsicht, dass der Tod nicht mehr weit entfernt ist. Der Disput, der zum Statement wird, informiert und bindet alle beteiligten Freunde in der Kneipe. Die Angst von Sterben verliert ihren Schecken. Die Freude am Leben bleibt erhalten.

1)
Luther-Bibel 2017: Matthäus 26:21 „Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.“
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