Vom kühlen zum emphatischen Kino: die Filme von Yorgos Lanthimos (Bernd Heinen)
Seit den Jahren 2009/2010 hat sich zur allgemeinen Überraschung in Griechenland eine neue Generation von Filmemacher*innen zu Wort gemeldet und große Aufmerksamkeit in der kinematographischen Welt gefunden. Syllas Tzoumerkas, Athina Rachel Tsangari, Fillipos Tsitos sind die bekannntesten Namen dieser griechischen „Neuen Welle“. Sie werden aber noch übertroffen von Yorgos (Giorgos) Lanthimos, der seit 2015 in England lebt und dort drei große internationale Produktionen realisierte. Überraschen konnten diese Regisseure, weil sie in einer Zeit der großen griechischen Wirtschaftskrise ihre Filme drehten. Die oft sehr „kühlen“, metaphorischen Versuchsanordnungen weisen nie direkt auf diese Krise hin; nur ihre sehr geschlossenen Formen, die rigorose, parabelhafte Ausweglosigkeit geben einen Eindruck vom Zustand der griechischen Gesellschaft. Keiner dieser Filme zeigt das touristische Griechenland, sondern die Plots führen uns Zuschauer fast immer in hässliche, heruntergekommene Städte und Regionen. Der neue griechische Film ist ein Kino der Verstörung, es übersetzt sein subversives Potential in geschlossene Geschichten und Bilder. Sie werfen oft einen sehr kalten Blick auf die objektiven und subjektiven Lebensformen, die dabei sehr abstrakt und in strengen, hermetischen Bildern erzählt sind. Sie führen das Kino eines Theo Angelopoulos, dem bedeutendsten griechischen Regisseur des Weltkinos, weiter in das 21. Jahrhundert.
Yorgos Lanthimos (geb. 1973) eröffnete diesen filmischen Frühling in ökonomisch extrem schwierigen Zeiten mit „Dogtooth“ (dt.: Hundszahn, 2009). Er schildert, wie die Sehnsucht nach Sicherheit in bürgerlichen Schichten in radikalen Fanatismus umschlagen kann. Ein Vater isoliert in seinem sehr modernistischen Anwesen, das an „Mon Oncle“ von Jacques Tati erinnert, seine Kinder vollständig von der Außenwelt und macht aus seinem Schutzbedürfnis heraus Garten und Haus zum Gefängnis auf Lebenszeit.
„Attenberg“ (2010) führt diese Ästhetik weiter. Lanthimos ist hier Produzent und einer der Hauptdarsteller, Athina Tsangari führte Regie. Der Film spielt in der fast verlassenen Industriestadt Aspra Spitia in Böotien; er reflektiert in immer neuen Formen und Anspielungen unter Einbeziehung von Tanz, Performance, Dokumentarfilm, Theater, Architektur das Verhältnis von Sex und Tod.
„Alpen“ (2011) nimmt das Thema Tod wieder auf. Der Film erzählt davon, wie der Schmerz, den man durch den Verlust eines geliebten Menschen erfährt, künstlich unterdrückt wird. Durch eine Imitation der Verstorbenen, die ein Mitglied der Gruppe „Alpen“ übernimmt, soll Familien und Partner*innen der Übergang in die Einsamkeit erleichtert werden. Die vorwiegend weiblichen Alpen-Mitglieder geben charakteristische Sätze der Toten wieder, stellen Schlüsselerlebnisse, einschließlich sexueller Vorlieben, nach. Sie wirken wie künstliche Wesen, wie Roboter. Schaffen die Alpen-Leute ihre Aufgaben nicht, werden sie vom männlichen Chef der Gruppe bestraft.
Nachdem die Finanzierung von Filmen in Griechenland immer schwieriger bis unmöglich wurde, ging Lanthimos 2015 nach England und konnte dort ein von ihm und Efthmyis Filippou verfasstes Drehbuch verfilmen (The Lobster). Der Film spielt in naher Zukunft in einer Stadt, in der nur Paare leben dürfen. Die Singles werden in ein Hotel am Meer gebracht und müssen dort in 45 Tagen einen Partner*in finden, sonst werden sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt. Dem widersetzen können sie sich nur durch Flucht in den Wald, wo die Partnerlosen von den Partnersuchenden mit Betäubungsgewehren gejagt werden. Das ist sicher ein extravaganter Plot mit sehr viel subversivem Potential hinsichtlich einer staatlich verordneten Diktatur der Zweisamkeit, dazu ein wilder Genremix aus absurder Komödie, augenzwinkernder Dystopie, sehr schwarzem Melodram, wo die „Aufständischen“ nicht besser sind als die „Herrschenden“. „Lobster“ ist aber, im Verlauf des Films immer klarer, vor allem ein Vehikel für große Hollywood-Stars mit denen Lanthimos erstmals drehte: werden Colin Farrell und Rachel Weisz ein Paar? Diese dem Film innewohnende, etwas verstaubte Widersprüchlichkeit wurde mit dem „Europäischen Filmpreis“ und dem Großen Jury-Preis in Cannes ausgezeichnet.
Sein nächster, englischsprachiger Film „The Killing of a Sacred Deer“ beschäftigt sich mit Schuld und Rache, mit dem Iphigenie-Mythos als Hintergrund. Wie ein Racheengel dringt Martin in eine klassische amerikanische Chefarzt-Familie ein, um den durch Operationsfehler des offensichtlich angetrunkenen Arztes hervorgerufenen Tod seines Vaters zu rächen. Es ist wieder ein eisiger Blick, den Lanthimos auf seine Personen richtet, ein Film wie auf einem „OP-Tisch“ schrieb ein Kritiker. Emphase ist hier nicht anwesend, auch die Empfindungen der Zuschauer werden gedrosselt, man soll die angeknacksten, irreparablen Stellen der Welt registrieren und untersuchen. Lanthimos stellt hier Denkaufgaben – sein Interesse gilt aber auch hier wieder mehr den Stars, hier Nicole Kidman und Colin Farrell, und der Darstellung der Beziehung ihrer Figuren, die sie trotz Untreue, Verrat, Nicht-Verstehen stoisch weiterführen.
2018 drehte Lanthimos mit „The Favourite“ seinen bisher erfolgreichsten, vielfach ausgezeichneten Film (Silberner Löwe Venedig, Oscar für die Hauptdarstellerin Olivia Colman, Oscar-Nominierung als Bester Film, British Award für den besten Film 2018). Es ist ein ausgefeilt-üppiges, überbordendes Dekadenzporträt mit vielen boshaften Bonmots und sexuellen Anspielungen, bewundernswerter technischer Perfektion und pompösem Reichtum an Details geworden. Der Film steht seinem klassischen Vorbild „Barry Lyndon“ (1975, Stanley Kubrick) in keiner Weise nach. Sicher das erste „Meisterwerk“ dieses Filmemachers. Wie alle Filme von Giorgos Lanthimos ist auch dieser ein Spiel um die Macht, politische, persönliche, sexuelle, finanzielle, aber das Schwere und zugleich Eisgekühlte der metaphorischen Versuchsanordnungen ist hier endlich einer neuen Freiheit und emphatischen Darstellungsweise auf allen inszenatorischen Ebenen gewichen.