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Hara Setsuko – eine wandelbare Schauspielerin
Schauspielerin
Hara Setsuko 原節子 (1920–2015) gilt als eine der größten Ikonen der „goldenen Ära“ des japanischen Kinos. In ihren Rollen verkörperte sie spezifische Idealbilder japanischer Frauen, die jeweils die gesellschaftliche Stimmung der Zeit widerspiegelten.
Herkunft und Familie
Hara Setsuko wurde als das jüngste von acht Kindern am 17. Juni 1920 in Yokohama geboren. Ihr bürgerlicher Name lautete Aida Masae 合田昌江. Durch die Weltwirtschaftskrise 1929 litt ihre Familie unter schweren finanziellen Problemen, weswegen Hara im Alter von 14 Jahren beschloss, die Schule zu verlassen und ihre Familie finanziell zu unterstützen. Der Einstieg in die Filmindustrie gelang durch ihren Schwager Kumagai Hisatora 熊谷久虎 (1904-1986), der als Produzent arbeitete.
Karrierebeginn und Durchbruch
Im Jahr 1935 schloss Hara Setsuko ihren ersten Vertrag bei dem Filmstudio Nikkatsu kabushiki gaisha 日活株式会社 ab. Bereits im selben Jahr debütierte sie mit einer Hauptrolle in dem Film Tamerafu nakare wakôdo yo ためらふ勿れ若人よ (Zögert nicht, junge Leute). Schon zu Beginn ihrer Karriere wirkte sie in mehreren Filmen mit, in denen sie kleinere Rollen, beispielsweise Schulmädchen, spielte. Zudem verkörperte sie Rollen in Adaptionen westlicher Literaturklassiker. Der Durchbruch als Schauspielerin gelang ihr im Jahr 1937 durch die Hauptrolle in der deutsch-japanischen Co-Produktion Atarashiki tsuchi 新しき土 (deutscher Titel: Die Tochter des Samurai). Der Film erlangte in Japan eine so große Popularität, dass im selben Jahr eine zweimonatige Deutschlandtournee startete. Diese Werbe-Tournee des Films wurde gleichzeitig zu einer Werbe-Tournee für Hara, die ab diesem Zeitpunkt eine prominente Rolle in der (japanischen) Öffentlichkeit spielte und immer wieder mit dem Westen assoziiert wurde. Trotz ihres internationalen Erfolges und ihrer steigenden Bekanntheit erntete Hara in Japan bezüglich ihres Schauspieltalents häufig Kritik, wodurch sie den schlechten Ruf als daikon joyû 大根女優 (Schmierenschauspielerin) bekam. Kritisiert wurden vor allem die mangelnde Authentizität ihrer Rollen und ihre Gesichtsausdrücke, die die Kritiker der Zeit als zu grob wahrnahmen und mit westlichen Schauspielerinnen in Verbindung brachten. Im Jahr 1939 wurde sie zum „Face of Japan“ in der New York World‘s Fair, auf der ein Porträt von Hara mit dem Slogan „Orient calls“ zu sehen war.
Während des Krieges
In der Kriegszeit diente Hara als Aushängeschild des neuen Schönheitsideals kenkô-bi 健康美 (gesunde Schönheit), bei dem es sich um eine Vereinigung von Gesundheit, Stärke und Schönheit handelte. Das Ziel dieses neuen Ideals war kein rein ästhetisches, sondern das Erschaffen von starken und kräftigen japanischen Körpern, die dem Krieg und der Nation von Nutzen sein würden, weswegen nun vor allem kräftige weibliche Körper mit beispielsweise breiten Hüften propagiert wurden. Auch Frauenmagazine, die als primäre visuelle Quelle für Frauen an der Heimatfront dienten, bewarben das Ideal. Sie beurteilten berühmte Persönlichkeiten, die in der Öffentlichkeit standen, nach diesem Ideal.
Vor allem erlangte Hara während des Krieges durch ihre Rollen in Propagandafilmen (kokusaku eiga 国策映画) Popularität, durch die sie den Spitznamen gunkoku no megami 軍国の女神 (Göttin des Militärstaats) erhielt. Sie spielte nun Nebenrollen, die einem traditionelleren und patriotischeren Frauenbild entsprachen. Zudem führte ihr Schwager Kumagai Hisatora in mehreren Propagandafilmen Regie und übte wahrscheinlich einen großen Einfluss auf Hara aus.
Besonders bekannt sind die Rollen der verantwortungsvollen älteren Schwester, die Hara in verschiedenen Filmen verkörperte. In den Filmen unterstützte die ältere Schwester meist ihre jüngeren Brüder und verabschiedete diese zuversichtlich in den Krieg. Ein besonderes Beispiel ist der im Jahr 1949 erschienene Film Bôrô no kesshitai 望楼の決死隊 (Wachturm des Himmelfahrtskommandos). In diesem spielt Hara die Ehefrau eines Soldaten, der die Grenzen kontrolliert. Als Schwesterfigur fungiert sie dabei für die jüngeren Soldaten und vermittelt u.a. bei Konflikten. Gegen Ende des Filmes kommt es zu einem Feuergefecht, bei der die von Hara gespielte Rolle selbst zu einer Pistole greift und dabei eine ungewöhnliche Aggressivität ausstrahlt.
Abseits der herkömmlichen Propagandafilme spielte Hara auch in shinzen eiga 親善映画 (Wohlwollen-Filme) mit, die das Ziel hatten, die aggressive japanische Expansionspolitik mit oft romantischen Lösungen zu legitimieren.
Nachkriegszeit
Durch die Kriegsniederlage und die Besetzung Japans durchlebte auch die Filmindustrie allmählich einen Werte- und Rollenwandel. Der große Einfluss von Filmen auf die Bevölkerung wurde genutzt, um die weibliche Emanzipation voranzutreiben. Zusätzlich propagierten Magazine das Bild einer starken, unabhängigen und intellektuellen Frau - zumindest im Vergleich zur Zeit während des Krieges. Trotz ihres frühen Schulabbruchs fungierte Hara in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit als vorbildliche, hübsche und gebildete Schauspielerin. Kritiker lobten ihren Intellekt und wollten diesen als Standard für alle Schauspielerinnen etablieren. Ihre Selbstdarstellung passte ebenfalls in dieses Bild. So bezeichnete sie sich selbst als dokusha 読者 (Leseratte), die nicht nur japanische, sondern auch Literatur aus dem Ausland lesen würde. Zu dieser Zeit wirkte ihr Auftreten bestimmter und selbstbewusster. Sie begann Rollen abzulehnen und weigerte sich beispielsweise, sich für einen Film in Badebekleidung zu zeigen. Dieses Verhalten missfiel vor allem männlichen Kritikern.
Die Rollen, die sie in den Jahren nach dem Krieg spielte, brachten ihr den Spitznamen minshushugi no megami 民主主義の女神 (Göttin der Demokratie) ein. Konträr zu den Rollen, die sie während der Kriegszeit verkörperte, sollten ihre neuen Rollen nun ein Mittel sein, Demokratie zu propagieren und der Bevölkerung näher zu bringen. Hara übernahm in diesen Filmen oftmals die Rolle von Lehrerinnen. Eine weibliche Lehrkraft schien ein gutes Mittel zu sein, um demokratische Werte, Moral und Lebenseinstellungen an die Nachkriegsgesellschaft und vor allem die junge Generation zu vermitteln, ohne dies auf zu autoritäre Weise durchzusetzen. Ein typisches Beispiel für eine von Haras Lehrerinnenrollen ist in dem Film Aoi sanmyaku 青い山脈 (Blaue Gebirgskette), der 1949 erschien. Der Film behandelt den von Schülern ausgehenden Kampf um eine demokratische Revolution und gegen die stumpfe Übernahme traditioneller Werte. Hara, die die Lehrkraft der Schüler spielt, ermutigt und unterstützt diese dabei. Somit wird sie zu einer Lehrkraft, die eine fast schwesterliche Autorität ausstrahlt.
In den frühen 1950ern wandelten sich ihre Filmrollen erneut. Von der „starken Frau“ erfolgte eine von Nostalgie geprägte Rückkehr zu einer traditionelleren japanischen Frau als Familienmensch. Besonders geprägt wurde dieses Bild durch den Regisseur Ozu Yasujirô 小津安二郎 (1903-1963), mit dem Hara über Jahre hinweg an verschiedenen Filmen arbeitete und ein gutes persönliches Verhältnis pflegte. Am bekanntesten ist die Noriko-Trilogie, in deren Filmen Hara immer eine unterschiedliche Rolle spielt, die den Namen Noriko trägt, und in denen traditionelle Familienkonflikte behandelt werden. Der erste Film der Reihe namens Banshun 晩春 (Später Frühling) erschien 1949. In diesem verkörperte Hara eine junge Frau, die trotz der Bitte ihres verwitweten Vaters nicht heiraten möchte. Im zwei Jahre später erschienenen Film Bakushû 麦秋 (Frühsommer) spielt sie eine Tochter, die zwar heiraten möchte - jedoch nicht den von den Eltern ausgewählten Mann. Auch in dem letzten Film der Reihe Tôkyô monogatari 東京物語 (Tôkyô-Geschichte) dreht sich der Konflikt ihrer Rolle um die Heirat; diesmal verkörpert sie eine Witwe, die trotz des Wunsches ihrer alten Schwiegereltern nicht erneut heiraten möchte.
Rückzug aus der Öffentlichkeit und weiteres Leben
Als der Regisseur Ozu Yasujirô 1963 an Krebs verstarb, zog sich Hara kurz darauf bereits im Alter von 43 Jahren von der Schauspielerei zurück. Abgesehen von der Aussage, dass sie das Schauspielen eigentlich nie mochte, nannte sie keinen Grund für ihren frühen Karriereausstieg. 1963 trat sie ein letztes Mal in der Öffentlichkeit auf und unterschrieb mit ihrem Geburtsnamen Aida Masae, was darauf schließen lässt, dass sie mit ihrer Star-Persona abgeschlossen hatte. Ihr restliches Leben verbrachte sie in ihrem Haus in Kamakura, bis sie am 5. September 2015 an einer Lungenentzündung starb.
Star-Image und private Persönlichkeit
Im Laufe ihrer Karriere bekam Hara viele Spitznamen. Am charakteristischsten ist jedoch die Bezeichnung eien no shôjô 永遠の少女 (ewige Jungfrau). Obwohl dieser Spitzname erst in den 1940ern auftauchte, spielte er durchgehend eine große Rolle in Haras Karriere, da das Reine und Ewige ein großer Bestandteil ihrer Charaktere war. Geprägt waren diese auch durch das klassische japanische Frauenideal Yamato nadeshiko 大和撫子, welches sie verkörperte. Trotz ihrer Repräsentation einer typischen Japanerin wurde sie immer wieder mit dem Westen und mit Moderne in Verbindung gebracht, was seinen Anfang nach der internationalen Filmtournee nahm. Auch ihr Aussehen, besonders ihr Gesicht mit großen Augen, wurde oft mit dem westlicher Frauen verglichen. Dies nahm solche Ausmaße an, dass es ihr Leben lang Gerüchte gab, sie könnte eventuell keine „reine“ Japanerin sein.
Trotz ihres großen Erfolgs wird die „wirkliche“ Hara abseits ihrer Star-Persönlichkeit als sehr zurückgezogene und isolierte Person beschrieben. Während der Pausen bei der Arbeit sah man sie meist alleine ein Buch lesen, nach der Arbeit verließ sie als erste das Filmset und ging direkt nach Hause, statt noch etwas mit ihren Kollegen zu unternehmen. Zudem war ihr öffentliches Auftreten außerhalb der Leinwandstets sehr begrenzt, weswegen nur sehr wenig über ihr Privatleben bekannt ist. Genau dies scheint ihrer Karriere aber von Vorteil gewesen zu sein, da es dadurch keine Skandale um ihre Person gab und so ein makelloses Star-Image vermarktet werden konnte.
Fazit
Hara Setsuko war eine Frau, die aus familiärer Not heraus eine Schauspielkarriere begann, die internationale Bekanntheit erlangte. Ihre sich immer wandelnden Rollen ließen sie mehr ein Konzept verkörpern als einen richtigen Menschen. Da sie sich nach dem Krieg nie bewusst von ihren vorherigen Rollen in Propagandafilmen abgrenzte, ist umstritten, wie Hara einzuordnen ist. Aufgrund ihres begrenzten Auftretens in der Öffentlichkeit und nur weniger Interviews ist nicht klar, wie ihre politische Gesinnung war und ob die Wahl ihrer Rollen nach dem Krieg opportunistisch oder lediglich pragmatisch erfolgte. Trotzdem sind sie und die von ihr dargestellten Charaktere immer mit der Zeit gegangen und repräsentierten das jeweilige gesellschaftliche Klima. Ihr Image, welches ständig im Wandel war, diente besonders jungen Mädchen als Vorbild.
Literatur
- CHIBA, Nobuo 千葉伸夫: Hara Setsuko: densetsu no joyû 原節子 伝説の女優. Tôkyô: Heibonsha 2001.
- COATES, Jennifer: „Setsuko Hara vs. the Press: The post-war trolling of a wartime icon”. In: Frames Cinema Journal, Bd. 13 (2018).
- HAUKAMP, Iris: „Fräulein Setsuko Hara: constructing an international film star in nationalist contexts“. In: Journal of Japanese and Korean Cinema, Bd. 6, Nr. 1 (2014), S. 4–22.
- JACOBY, Alexander: „Hara Setsuko“. In: Sight and Sound, Bd. 26, Nr. 3 (2016), S.18.
- KANNO, Yuka: The „Eternal Virgin“ Reconsidered: Hara Setsuko in Contexts. In: ICONICS, Bd. 10 (2010), S. 97-118.
- KARLSSON, Mats: „Setsuko Hara: Japan’s Eternal Virgin and Reluctant Star of the Silver Screen“. In: BANDHAUER, Andrea (Hrsg.), ROYER, Michelle (Hrsg.): Stars in World Cinema: Film Icons and Star Sytems across Cultures. London: Bloomsbury Publishing 2019, S. 51-64.
- KITAMURA, Kyohei 匡平北村: „Haizen no suta joyû. Senryô-ki ni okeru Hara Setsuko no sutâperusona 敗戦のスター女優。占領期における原節子のスターペルソナ“. In: Eizôgaku 映像学, Nr. 96 (2016), S. 68-88.
Celine JISCHKE